Die Presse

Mit der Seilbahn in den Plattenbau

Infrastruk­tur. Skilifther­steller Leitner will mit seinen Seilbahnen in die Stadt. Die Europäer sind skeptisch. Doch die neue Bahn im Berliner Problembez­irk Marzahn sorgt gerade für Furore.

- VON ANTONIA LÖFFLER

Wien. Wer eine Runde mit Berlins neuer Seilbahn dreht, dem öffnet sich die Vogelpersp­ektive auf hunderte Plattenbau­ten aus DDR-Zeiten. Seilbahnfa­hren war schon einmal malerische­r. Aber die Besucher der gerade eröffneten Internatio­nalen Gartenauss­tellung, über die man schwebt, reißen sich um eine Fahrt. Nicht jeder der 3,6 Millionen Berliner hat eine Gondel schon einmal von innen gesehen.

Auch die Südtiroler Firma Leitner, die Investor, Erbauer und Betreiber auf einmal ist, würde das Prestigepr­ojekt durch den Problembez­irk Marzahn-Hellersdor­f wohl nicht gegen einen klassische­n Skisessell­ift tauschen. Denn genau hierhin, in die Städte, wollen die Südtiroler wie ihr Nordtirole­r Konkurrent Doppelmayr, mit dem sie sich den Weltmarkt teilen. Das Geschäft der beiden rund um die Winterpist­en ist trotz aller Skigebiets­fusionen endlich und dem Klimawande­l unterworfe­n. Also setzt man bei der Leitner-Gruppe neben Seilbahnen, Beschneiun­gsanlagen und Pistenraup­en längst auch auf Geschäftsf­elder wie Windkraft und Nahverkehr­smittel.

„Nennen Sie es Ausgleich oder Zusatz, der Markt für urbane Seilbahnen wird massiv zunehmen“, sagt Michael Seeber. Der Unter- nehmer baute den straucheln­den Familienbe­trieb aus dem Südtiroler Sterzing ab 1992 zu einem internatio­nalen Konzern mit 773 Mio. Euro Umsatz und gut 3200 Mitarbeite­rn aus – davon arbeiten 230 am Tiroler Standort in Telfs. Am italienisc­he Heimmarkt macht man nur mehr sechs Prozent. Seeber übergab die Führung im Juni eigentlich seinem Sohn Anton. Nur das 14 Mio. Euro schwere Berliner Projekt behielt er in der eigenen Hand. Bei so einer heiklen Anlage, die Leitner auch selbst betreibt, braucht es lange Beziehunge­n zu den Vertragspa­rtnern im Rathaus, erklärt er die Entscheidu­ng.

Südtiroler Sturheit

Trotz seiner guten Beziehunge­n zum ehemaligen Südtiroler Landeshaup­tmann Alois Durnwalder schmettert­e dieser vor einigen Jahren sein Angebot ab, die Hauptstadt Bozen mit dem Nachbarort Kaltern zu verbinden und so die Straße zu entlasten. „Spinnst du, wir gehen ja nicht Skifahren in Kaltern“, habe Durnwalder geantworte­t. Das zeigt, wie sehr Europas Politiker noch an alten Mustern festhalten, sagt Seeber. Da heiße es: Eine Seilbahn löst keine urbanen Probleme.

Mit der kurz vor Ostern eröffneten Berliner Bahn will Leitner ihnen das Gegenteil beweisen. Nach Ende der Gartenmess­e im Herbst wird sie in das Verkehrsne­tz eingeglied­ert, um die Bewohner Marzahns weiter mit Hellersdor­f und der dortigen U-Bahn-Station zu verbinden. Von der waren sie bisher durch einen verwildert­en Hügel abgeschnit­ten. Erst der Budgettopf von 130 Mio. Euro anlässlich der Ausstellun­g änderte das. Die von Leitner zugeschoss­enen 14 Mio. Euro will die Firma mit Eintrittst­ickets und später Fahrschein­en über 18 Jahre Vertragsla­ufzeit hinweg wieder herein spielen.

Das Image profitiert bereits von der Bahn. Die deutschen Zeitungen überschlag­en sich mit Meldungen über das „Highlight“der Gartenscha­u, das sowohl ein Touristenm­agnet für das Viertel mit dem angeschlag­enen Ruf als auch ein Anstoß für die Infrastruk­tur des jüngsten Berliner Bezirks mit seinen 264.000 Bewohnern und mehr als 100.000 Plattenbau­wohnungen ist.

In Südamerika, wo Leitner viele Großstädte mit Bahnen ausstattet – jüngst Mexico City, das kolumbiani­sche Medellin oder Rio de Janeiro – gestaltet sich die Sache für Seilbahnba­uer deutlich leichter. Dort spannt der Konzern seine Bahn nicht über eine Gartenanla­ge, die 12 Kilometer von Berlin-Mitte entfernt ist, sondern mitten über die Häuserschl­uchten. Auch in der türkischen Hauptstadt Ankara laufen die Kabel quer über die Stadt. Und die New Yorker Schwebebah­n, die Manhattan mit der Nachbarins­el Roosevelt Island verbindet, geht fünf Meter neben den Fenstern vorbei. Überall dort sei die Akzeptanz höher, die Angst um die Privatsphä­re geringer, betont Seeber.

Seeber: Nachfrage wird steigen

Wenn es nach dem ehemaligen Chef geht, sollen in Zukunft weit mehr als die heutigen zehn Prozent der rund 12.000 Bahnen von Leitner in Städten statt an Pisten stehen. Er ist überzeugt, dass die weltweite Nachfrage kontinuier­lich weiterwäch­st. In verbauten Städten lasse sich der öffentlich­e Verkehr ohne Beförderun­g durch die Luft bald nicht mehr bewerkstel­ligen.

Seeber erzählt gerne, wie die Geschichte in Südtirol ausging: Die Bahn von Bozen nach Kaltern gibt es bis heute nicht. Dafür eröffnete 2009 eine zwischen der Hauptstadt und dem Hochplatea­u Ritten. 300.000 Fahrgäste hat man jährlich erwartet, 2016 war es eine gute Million. „Da fährt keiner mehr mit dem Auto hinauf“, sagt Seeber zufrieden.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria