Mit der Seilbahn in den Plattenbau
Infrastruktur. Skilifthersteller Leitner will mit seinen Seilbahnen in die Stadt. Die Europäer sind skeptisch. Doch die neue Bahn im Berliner Problembezirk Marzahn sorgt gerade für Furore.
Wien. Wer eine Runde mit Berlins neuer Seilbahn dreht, dem öffnet sich die Vogelperspektive auf hunderte Plattenbauten aus DDR-Zeiten. Seilbahnfahren war schon einmal malerischer. Aber die Besucher der gerade eröffneten Internationalen Gartenausstellung, über die man schwebt, reißen sich um eine Fahrt. Nicht jeder der 3,6 Millionen Berliner hat eine Gondel schon einmal von innen gesehen.
Auch die Südtiroler Firma Leitner, die Investor, Erbauer und Betreiber auf einmal ist, würde das Prestigeprojekt durch den Problembezirk Marzahn-Hellersdorf wohl nicht gegen einen klassischen Skisessellift tauschen. Denn genau hierhin, in die Städte, wollen die Südtiroler wie ihr Nordtiroler Konkurrent Doppelmayr, mit dem sie sich den Weltmarkt teilen. Das Geschäft der beiden rund um die Winterpisten ist trotz aller Skigebietsfusionen endlich und dem Klimawandel unterworfen. Also setzt man bei der Leitner-Gruppe neben Seilbahnen, Beschneiungsanlagen und Pistenraupen längst auch auf Geschäftsfelder wie Windkraft und Nahverkehrsmittel.
„Nennen Sie es Ausgleich oder Zusatz, der Markt für urbane Seilbahnen wird massiv zunehmen“, sagt Michael Seeber. Der Unter- nehmer baute den strauchelnden Familienbetrieb aus dem Südtiroler Sterzing ab 1992 zu einem internationalen Konzern mit 773 Mio. Euro Umsatz und gut 3200 Mitarbeitern aus – davon arbeiten 230 am Tiroler Standort in Telfs. Am italienische Heimmarkt macht man nur mehr sechs Prozent. Seeber übergab die Führung im Juni eigentlich seinem Sohn Anton. Nur das 14 Mio. Euro schwere Berliner Projekt behielt er in der eigenen Hand. Bei so einer heiklen Anlage, die Leitner auch selbst betreibt, braucht es lange Beziehungen zu den Vertragspartnern im Rathaus, erklärt er die Entscheidung.
Südtiroler Sturheit
Trotz seiner guten Beziehungen zum ehemaligen Südtiroler Landeshauptmann Alois Durnwalder schmetterte dieser vor einigen Jahren sein Angebot ab, die Hauptstadt Bozen mit dem Nachbarort Kaltern zu verbinden und so die Straße zu entlasten. „Spinnst du, wir gehen ja nicht Skifahren in Kaltern“, habe Durnwalder geantwortet. Das zeigt, wie sehr Europas Politiker noch an alten Mustern festhalten, sagt Seeber. Da heiße es: Eine Seilbahn löst keine urbanen Probleme.
Mit der kurz vor Ostern eröffneten Berliner Bahn will Leitner ihnen das Gegenteil beweisen. Nach Ende der Gartenmesse im Herbst wird sie in das Verkehrsnetz eingegliedert, um die Bewohner Marzahns weiter mit Hellersdorf und der dortigen U-Bahn-Station zu verbinden. Von der waren sie bisher durch einen verwilderten Hügel abgeschnitten. Erst der Budgettopf von 130 Mio. Euro anlässlich der Ausstellung änderte das. Die von Leitner zugeschossenen 14 Mio. Euro will die Firma mit Eintrittstickets und später Fahrscheinen über 18 Jahre Vertragslaufzeit hinweg wieder herein spielen.
Das Image profitiert bereits von der Bahn. Die deutschen Zeitungen überschlagen sich mit Meldungen über das „Highlight“der Gartenschau, das sowohl ein Touristenmagnet für das Viertel mit dem angeschlagenen Ruf als auch ein Anstoß für die Infrastruktur des jüngsten Berliner Bezirks mit seinen 264.000 Bewohnern und mehr als 100.000 Plattenbauwohnungen ist.
In Südamerika, wo Leitner viele Großstädte mit Bahnen ausstattet – jüngst Mexico City, das kolumbianische Medellin oder Rio de Janeiro – gestaltet sich die Sache für Seilbahnbauer deutlich leichter. Dort spannt der Konzern seine Bahn nicht über eine Gartenanlage, die 12 Kilometer von Berlin-Mitte entfernt ist, sondern mitten über die Häuserschluchten. Auch in der türkischen Hauptstadt Ankara laufen die Kabel quer über die Stadt. Und die New Yorker Schwebebahn, die Manhattan mit der Nachbarinsel Roosevelt Island verbindet, geht fünf Meter neben den Fenstern vorbei. Überall dort sei die Akzeptanz höher, die Angst um die Privatsphäre geringer, betont Seeber.
Seeber: Nachfrage wird steigen
Wenn es nach dem ehemaligen Chef geht, sollen in Zukunft weit mehr als die heutigen zehn Prozent der rund 12.000 Bahnen von Leitner in Städten statt an Pisten stehen. Er ist überzeugt, dass die weltweite Nachfrage kontinuierlich weiterwächst. In verbauten Städten lasse sich der öffentliche Verkehr ohne Beförderung durch die Luft bald nicht mehr bewerkstelligen.
Seeber erzählt gerne, wie die Geschichte in Südtirol ausging: Die Bahn von Bozen nach Kaltern gibt es bis heute nicht. Dafür eröffnete 2009 eine zwischen der Hauptstadt und dem Hochplateau Ritten. 300.000 Fahrgäste hat man jährlich erwartet, 2016 war es eine gute Million. „Da fährt keiner mehr mit dem Auto hinauf“, sagt Seeber zufrieden.