Kamen die ersten Amerikaner aus dem Neandertal?
Archäologie. Der alte Streit um die Besiedelung der Neuen Welt nimmt eine atemraubende Wendung: Vor 130.000 Jahren sollen die ersten Menschen in Amerika gewesen sein. Von unserer Art können sie nicht gewesen sein: Homo sapiens hatte damals Afrika noch nic
„Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“So decouvrierte Georg Christoph Lichtenberg den Mythos der Neuen Welt, die nur für die Ankömmlinge eine neue war. Aber wer war dieser unglückselige Amerikaner, von wem stammte er ab, wann und auf welchem Weg waren seine Ahnen gekommen?
Darüber herrscht Streit ohne Ende: Vor 13.500 Jahren sind Menschen der ClovisKultur aus Sibirien eingewandert, über die Beringstraße, die der Eiszeit wegen trocken war, so die Mehrheitsmeinung. Aber kurz darauf waren Menschen am anderen Ende des Doppelkontinents, in Feuerland, so rasch hätte keiner wandern können. Dann gibt es noch 40.000 Jahre alte Fußspuren in Mexiko und Felsmalereien in Brasilien, und es gibt Kennewick Man. Der lebte vor 8400 Jahren, sah aber sehr nach Japaner aus; und es gibt Indigene in Brasilien, die seit Urzeiten Gene aus Melanesien haben. Auch Europäer wurden ins Spiel gebracht, vor 20.000 Jahren sollen sie gekommen sein.
Das wogt seit Jahrzehnten hin und her, auch die Einwanderungsroute ist umstritten. Aber was sich jetzt gefunden hat, sprengt alle Grenzen, nicht nur die der Besiedelung Amerikas, sondern auch die der Menschheitsgeschichte: Vor 130.000 Jahren sollen die ersten dort gewesen sein, im Süden Kaliforniens. Dort kamen 1992 bei Straßenbauarbeiten Flusssedimente ans Licht, die Archäologen des San Diego Natural History Museum um Steven Holen auf den Plan riefen. Sie werteten aus, sorgsam, Schicht um Schicht, in einer stießen sie auf Knochen eines Mastodons. Die waren teilsweise aufgeschlagen – vor allem an Stellen, an denen man Mark heraus holen konnte –, und um sie herum lagen Kiesel, die viel gröber waren als die durchschnittlichen, sie hatten zehn bis 30 Zentimeter Durchmesser, echte Werkzeuge waren sie nicht, aber Abnutzungsspuren vom Zuschlagen hatten sie.
Spuren auf Steinen und Knochen
Von denen, die zugeschlagen haben, gibt es nichts, keine Kochen, keine Zähne, nur die Spuren ihrer Arbeit an den Steinen und den Mastodonknochen. Ähnliche zerkratzte Knochen (jüngeren Datums) fanden sich auch schon andernorts, aber die waren umstritten: Die Kratzer konnten auch natürliche Ursachen haben, Verbiss durch Aasfresser etwa. Das schließen die Forscher bei die- sem Fund aus, sie haben auch in experimenteller Archäologie alles nachgestellt und mit Kieseln auf Elefantenknochen eingeschlagen: Die Muster passten zu den alten.
Auch die Datierungsmethode – über den Zerfall von Uran zu Thorium – ist Routine: 130.700 Jahre plus/minus 9400, so steht es in Nature (26. 4.), man hofft, dass das Journal bzw. seine Reviewer gut hingesehen haben. Das Problem ist, dass es Homo sapiens damals nur in Afrika gab. Er erwanderte die Erde erst vor 70.000 Jahren, vor 50.000 war er in Australien, vor 45.000 in Europa. Allerdings war er nicht der Erste, der aus Afrika ausgezogen ist, vor 1,8 Millionen Jahren machte sich Homo erectus auf den Weg und war bald in Dmanisi in Georgien. Und noch früher waren vermutlich die Ahnen der Zwergmenschen („Hobits“) auf der indonesischen Insel Flores losgewandert.
80 Kilometer übers offene Meer
Die ziehen die Forscher nicht in Erwägung, so bleiben drei Kandidaten: H. erectus und seine Erben Neandertaler und Denisova. Wer immer den großen Sprung wagte, hatte noch ein Problem: Vor 130.000 Jahren war keine Eiszeit, es gab keine Landverbindung zwischen Asien und Amerika, und der Seeweg war weit: 80 Kilometer. Aber die Forscher verweisen darauf, dass etwa auch Kreta früh ersegelt wurde, vor 130.000 Jahren, auch von anderen Menschen als H. sapiens.
Nun hat die Fantasie freien Lauf, etwa in einem Begleitkommentar von Erella Hovers (Jerusalem): Vom Denisova-Menschen hat man in Ostasien zwar keine Knochen gefunden, aber Gene hat er dort hinterlassen, vor allem im Süden, gegen Melanesien hin. Die könnten dann zu den Indigenen Brasiliens mit ihrem seltsamen Erbe mitgenommen worden sein. Wer weiß? Diese Indigenen leben noch, man könnte nachschauen.