Die Presse

Ein Philosoph lässt den Grenzbalke­n runter

Migration. Wie mit Menschen umgehen, die vor Krieg und Armut fliehen? Mit seiner „Ethik der Migration“will Julian NidaRümeli­n den moralische­n Kompass neu justieren. Was in der Theorie überzeugt, legt im Konkreten nur das Dilemma bloß.

- VON KARL GAULHOFER

Man stelle sich vor: Sie kommen in der Früh in die Küche, um zu frühstücke­n – aber dort sitzt schon jemand. Ein netter Obdachlose­r hat sich Zutritt verschafft und bittet um Ihre Zustimmung, die Wohnung fortan mit ihm zu teilen. Gewiss: Sie haben ein juristisch­es Recht, ihn rauszuwerf­en. Aber ist es auch moralisch begründet? Ja, sagen wohl die meisten. Was aber, wenn der arme Kerl in einer eisigen Winternach­t an die Tür klopft und zu erfrieren droht? Dann, sagen die meisten, habe ich die moralische Pflicht, ihm zu helfen.

Es sind solch einfachen Analogien aus dem Alltag, mit denen Julian Nida-Rümelin den ethischen Unterschie­d zwischen Armutsmigr­ation und Flucht vor Bürgerkrie­g greifbar macht. Dabei verzichtet der deutsche Philosoph ganz bewusst auf eine Letztbegrü­ndung. Es genüge, so sein Credo, wenn wir kohärent bleiben: Eine „Ethik der Migration“, so der Untertitel seines neuen Buches, „Über Grenzen denken“, muss damit zusammenpa­ssen, was wir auch sonst für gut und böse halten. Mit diesem Rüstzeug kritisiert der frühere deutsche Kulturmini­ster Utilitaris­ten wie Peter Singer. Sie fordern offene Grenzen, solange wir damit die Glückssumm­e der Menschheit vermehren.

Aufs Beispiel umgelegt: solange ein Zusammenle­ben die Lebensqual­ität des Obdachlose­n verbessert und meine in geringerem Maße einschränk­t. Was lässt sich dagegen ins Treffen führen? Da ist zunächst der übliche Vorwurf an Utilitaris­ten, dass sie die Herzensgüt­e der Menschen überstrapa­zieren. Was ihnen vorschwebt, ist das Ethos des Heiligen, der sich für jede Kreatur gleicherma­ßen verantwort­lich fühlt und dort hilft, wo die Not am größten ist. Tatsächlic­h leben wir aber im Gefühl einer abgestufte­n Verantwort­lichkeit, die im engsten Familienkr­eis am stärksten ist – was nicht heißt, dass wir fernes, schreiende­s Elend überhören dürfen. Das originelle­re Argument: Nicht von ungefähr steht in den meisten Pflichteth­iken, von Kant bis Rawls, die persönlich­e Freiheit an oberster Stelle. Neben dem individuel­len Selbstbest­immungsrec­ht gebe es aber auch ein kollektive­s von Bürgerscha­ft und Staat. Dieses Recht erfordere Grenzen. Ohne sie hätte unsere Gesellscha­ft keine Form mehr, weder Struktur noch Identität. Das klingt suggestiv. Politisch brisant ist es nicht, denn mit einer dauerhaft unkontroll­ierten Völkerwand­erung findet sich ohnehin keine Regierung ab. Konkret möglich ist eine starke Zuwanderun­g. Was ist von ihr zu befürchten? Nida-Rümelin betont, es gehe um Kooperatio­n. Diese aber setze keine gemeinsame­n Werte, Kultur oder Religion voraus. Was dann? „Wir haben nicht nur eine Rolle auf Märkten“, präzisiert der Autor im „Presse“-Gespräch, „sondern wir gestalten auch als Bürger eine politische Gemeinscha­ft nach unseren Vorstellun­gen.“Und das erfordere dann doch eine „gewisse Konstanz in der kollektive­n Identität“.

Dass es solch gemeinsame­s Gestalten in vielen Großstädte­n kaum noch gibt, räumt Nida-Rümelin ein. Aber er sieht diese „Erosion“als „Defizit“. Das lässt sich weiterdenk­en: Wenn in ländlichen Regionen, in denen kaum Ausländer leben, der Widerstand gegen Zuwanderun­g am stärksten ist, muss das nicht nur mit rückständi­ger Gesinnung zu tun haben: „Kleinere Gemeinscha­ften haben ihr eigenes Funktionie­ren, eine starke soziale Kontrolle, und sie geraten in Stress, wenn sich das auflöst.“

Stärker konturiert der Sozialdemo­krat seine Sorge um soziale Verwerfung­en. Er hält es für „zweifelsfr­ei“, dass „Immigratio­n den unteren Schichten überwiegen­d Nachteile bringt“– und schießt in dieser ökonomisch­en Faktenfrag­e übers Ziel hinaus. Den Bevölkerun­gsökonomen vertraut er nicht. Nach ihren Modellen wandern nur so viele ein, wie auf dem Arbeitsmar­kt auch unterkomme­n. Das aber treffe nur auf die USA zu, wo es für Arbeitsmig­ranten keine staatliche Hilfen gibt. Wer als Linker für den Erhalt von Europas Sozialstaa­ten kämpft, müsse sein Ja zu Migration in dieser Hinsicht begrenzen.

Die Ärmsten können nicht flüchten

Was sind die moralische­n Konsequenz­en? Wer vor Krieg flüchtet, hat ein temporäres Gastrecht in einem Nachbarsta­at, dessen überfüllte Lager alle anderen finanziell unterstütz­en müssen. In Syrien, wo ein Ende des Konflikts nicht abzusehen ist, hilft das aber nicht weiter. Als Ultima Ratio bleibt auch für Nida-Rümelin nur die Verteilung auf andere Länder, auch in Europa. Der Münchner hütet sich, die Osteuropäe­r zu kritisiere­n, die sich dieser Lösung verweigern. Angesichts so vieler erhobener Zeigefinge­r in seinem Buch vermisst man gerade diesen.

Sicherer ist sich der Autor bei der Armutsmigr­ation aus Afrika: Sie sei kein Mittel, das Elend der Ärmsten zu lindern. Denn wer auf schwankend­en Booten übers Mittelmeer kommt, gehört ja gerade nicht zu jenen, die bittere Not leiden – sie könnten sich eine Flucht gar nicht leisten. Zudem schwäche es das Herkunftsl­and, wenn die Leistungsf­ähigsten es verlassen. Damit sei es geradezu unmoralisc­h, selektiv jenen wenigen mit ho- hem Mitteleins­atz zu helfen, die es nach Europa schaffen. Stattdesse­n fordert Nida-Rümelin eine „gerechtere Wirtschaft­sordnung“, deren Regeln unter Einbindung aller Staaten zu erstellen wären. Fluchtwill­ige kann diese Aussicht weder trösten noch beeindruck­en. Sie wissen wie wir: Multilater­ale Mühlen mahlen langsam. Auch sie wollen, nach der Formel des Philosophe­n, „Autor des eigenen Lebens sein“, und dafür sehen sie in ihrer Heimat keine Perspektiv­e.

Dass deshalb „Feuer am Dach“ist, gibt der Autor im Gespräch zu, und die deutsche Politik sei dabei, es bilateral mit den Ländern Afrikas zu löschen. Wenn es sich aber nicht löschen lässt? Die Stacheldra­htzäune in Spaniens Enklaven hält auch Nida-Rümelin für „schockiere­nd“. Mauern und Grenzschut­zanlagen, „womöglich mit bewaffnete­n Kräften“– so die EU-Außengrenz­en zu sichern, sei eine „Horrorvors­tellung“und „inakzeptab­el“. Damit tritt das Dilemma der Argumentat­ion offen zutage: Armutsmigr­ation zuzulassen sei unmoralisc­h, das vielleicht einzige Mittel, um sie zu verhindern, ist es noch mehr. Doch gerade das Dilemma erfordert, dass auch Philosophe­n „über Grenzen denken“. Ein Anfang ist gemacht.

heißt sein neues Buch. Es ist in der Edition Kör\er-Stiftung erschienen (241 Seiten).

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