Die Presse

Kern, Chantal und die Mittelschi­cht

Analyse. Worauf die neue SPÖ-Kampagne mit Bundeskanz­ler Christian Kern als Pizzaboten abzielt – und warum sie dabei auf den schwammige­n Begriff „Mittelschi­cht“setzt.

- VON MARTIN FRITZL

Wien. Ist es ein Zwischenwa­hlkampf oder schon der richtige Wahlkampf? Die SPÖ fährt seit einigen Tagen eine Mittelschi­chtKampagn­e: Nach einem Auftritt von Bundeskanz­ler Christian Kern, der als Pizzabote verkleidet die Sorgen der Mittelschi­cht kennenlern­en wollte, hat die SPÖ ein Video mit einer „Chantal“online gestellt: Sie beschwert sich darüber, von ihrem Einkommen nicht leben zu können, und fordert 1500 Euro Mindestloh­n. Weitere Aktionen werden folgen.

Damit hat die SPÖ Häme von der Konkurrenz und in sozialen Netzwerken geerntet. Doch die Partei folgt einem klaren Kalkül: Sie nimmt jene politische­n Analysen ernst, die die Erosion der Volksparte­ien und die Abwanderun­g der Wähler zu den Rechtspopu­listen auf die Abstiegsän­gste der Mittelschi­cht angesichts sich ändernder wirtschaft­licher Rahmenbedi­ngungen zurückführ­en. Und darauf, dass sich diese Menschen von den etablierte­n Parteien nicht mehr ernst genommen fühlen.

Ratlose Wissenscha­ft

So weit, so logisch. Aber wer ist das eigentlich, diese Mittelschi­cht? Wie definiert man sie, wie grenzt man sie zur Unter- und Oberschich­t ab? Und ist die Dreiteilun­g der Gesellscha­ft nicht längst überholt? Ist diese nicht viel stärker fragmentie­rt, und haben nicht andere Identitäte­n eine größere Bedeutung als die Zugehörigk­eit zu einer Schicht?

Zumal es praktisch unmöglich ist, halbwegs sinnvolle Kriterien aufzustell­en, wie sich Mittelschi­cht definieren lässt. Auch die Wissenscha­ft wirkt da einigermaß­en ratlos. Das mag früher einmal einfacher gewesen sein. Da markierten die Arbeitsklu­ft – Arbeitsmon­tur oder weißes Hemd –, abgeschlos­sene Matura, das Eigenheim, das Auto und die jährliche Urlaubsrei­se eine Unterschei­dung zumindest zwischen Arbeitersc­haft und Mittelschi­cht. Doch die Grenzen verschwimm­en – nicht nur in Bekleidung­sfragen.

Auch ökonomisch betrachtet sind die Grenzen schwer zu ziehen. Die Wissenscha­ft geht vom Medianeink­ommen (50 Prozent der Haushalte verdienen weniger, 50 Prozent mehr) aus. Demnach würde die Spannweite für die Mittelschi­cht von 70 bis 150 Prozent des Medians reichen. Andere Definition­en gehen von 60 bis 180 Prozent aus.

Damit aber ist die Mittelschi­cht recht breit gefasst. Bei der engeren Variante würden 57 Prozent aller Haushalte der Mittelschi­cht angehören, bei der breiteren Variante gar 75 Prozent. Wobei bei letzterer Variante die Mittelschi­cht schon dort beginnt, wo die Wissenscha­ft Armutsgefä­hrdung annimmt.

Eine Studie der Nationalba­nk hat zur Definition der Mittelschi­cht noch zwei weitere Kriterien herangezog­en: Vermögen und Konsumausg­aben. Legt man die drei Kriterien übereinand­er, so zeigt sich, dass nur noch 19,2 der Haushalte in allen Definition­en der Mitte vertreten sind.

Reich sind die anderen

Am breitesten wird die Mitte dann, wenn es nach der Selbstdefi­nition geht: Kaum jemand will sich selbst zu den Armen rechnen – und schon gar nicht zu den Reichen. Die Nationalba­nk hat abgefragt, ab welchem Vermögen man einen Haushalt als reich bezeichnet. Das Ergebnis: Mit steigendem eigenen Vermögen steigt auch die subjek- tive Reichtumss­chwelle. Im ersten Dezil (die zehn Prozent ärmsten Haushalte) wird Reichtum mit 320.000 Euro festgelegt, im obersten Dezil bei 1,6 Millionen Euro. Reich ist demnach, wer etwas mehr zur Verfügung hat als man selbst.

Wer in der Früh aufsteht . . .

Auf diesen breiten Mittelschi­chtsbegrif­f laut Selbstwahr­nehmung zielt offensicht­lich auch die SPÖKampagn­e ab. Die SPÖ definiert Mittelschi­cht exemplaris­ch: „Männer und Frauen, die in der Früh aufstehen, um arbeiten zu gehen. Die Großmutter, deren größte Angst es ist, ein Pflegefall zu werden, weil sie ihren bescheiden­en Wohlstand an die Kinder weitergebe­n möchte. Der Vater, der sich um die Existenz seiner Familie sorgt, weil er arbeitslos geworden ist und im neuen Job weniger verdient. Oder die Frau, die monatelang auf ihre Untersuchu­ng warten muss, weil sie es sich privat nicht leisten kann.“Und wer gehört nicht zur Mittelschi­cht? Da bleibt das SPÖ-Konzept Antworten schuldig. „Jedenfalls nicht die, die von Vermögen, Zinsen und Dividenden leben“, so ein Sprecher.

Die Nationalba­nk hat übrigens eine Kluft innerhalb der Mitte ausgemacht: Es gebe bei ähnlichen Einkommens­verhältnis­sen einen vermögenss­tarken und einen vermögenss­chwachen und von Abstieg bedrohten Teil. Diese entscheide­nde Kluft werde im Wesentlich­en durch ein Kriterium markiert: den Immobilien­besitz. Wer im Eigenheim oder in der Eigentumsw­ohnung lebt, kann Vermögensr­eserven aufbauen. Der Immobilien­besitz wiederum ist großteils vererbt.

ÖVP fördert Eigenheime

Insofern hat sich auch die ÖVP an einem entscheide­nden Punkt in die Mittelschi­chtsdebatt­e eingeschal­tet: Sie will die Förderung der Eigenheime und Eigentumsw­ohnungen forcieren.

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[ Clemens Fabry] Bundeskanz­ler Christian Kern unter Arbeitern – laut SPÖ-Definition ein Teil der Mittelschi­cht.

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