Kern, Chantal und die Mittelschicht
Analyse. Worauf die neue SPÖ-Kampagne mit Bundeskanzler Christian Kern als Pizzaboten abzielt – und warum sie dabei auf den schwammigen Begriff „Mittelschicht“setzt.
Wien. Ist es ein Zwischenwahlkampf oder schon der richtige Wahlkampf? Die SPÖ fährt seit einigen Tagen eine MittelschichtKampagne: Nach einem Auftritt von Bundeskanzler Christian Kern, der als Pizzabote verkleidet die Sorgen der Mittelschicht kennenlernen wollte, hat die SPÖ ein Video mit einer „Chantal“online gestellt: Sie beschwert sich darüber, von ihrem Einkommen nicht leben zu können, und fordert 1500 Euro Mindestlohn. Weitere Aktionen werden folgen.
Damit hat die SPÖ Häme von der Konkurrenz und in sozialen Netzwerken geerntet. Doch die Partei folgt einem klaren Kalkül: Sie nimmt jene politischen Analysen ernst, die die Erosion der Volksparteien und die Abwanderung der Wähler zu den Rechtspopulisten auf die Abstiegsängste der Mittelschicht angesichts sich ändernder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen zurückführen. Und darauf, dass sich diese Menschen von den etablierten Parteien nicht mehr ernst genommen fühlen.
Ratlose Wissenschaft
So weit, so logisch. Aber wer ist das eigentlich, diese Mittelschicht? Wie definiert man sie, wie grenzt man sie zur Unter- und Oberschicht ab? Und ist die Dreiteilung der Gesellschaft nicht längst überholt? Ist diese nicht viel stärker fragmentiert, und haben nicht andere Identitäten eine größere Bedeutung als die Zugehörigkeit zu einer Schicht?
Zumal es praktisch unmöglich ist, halbwegs sinnvolle Kriterien aufzustellen, wie sich Mittelschicht definieren lässt. Auch die Wissenschaft wirkt da einigermaßen ratlos. Das mag früher einmal einfacher gewesen sein. Da markierten die Arbeitskluft – Arbeitsmontur oder weißes Hemd –, abgeschlossene Matura, das Eigenheim, das Auto und die jährliche Urlaubsreise eine Unterscheidung zumindest zwischen Arbeiterschaft und Mittelschicht. Doch die Grenzen verschwimmen – nicht nur in Bekleidungsfragen.
Auch ökonomisch betrachtet sind die Grenzen schwer zu ziehen. Die Wissenschaft geht vom Medianeinkommen (50 Prozent der Haushalte verdienen weniger, 50 Prozent mehr) aus. Demnach würde die Spannweite für die Mittelschicht von 70 bis 150 Prozent des Medians reichen. Andere Definitionen gehen von 60 bis 180 Prozent aus.
Damit aber ist die Mittelschicht recht breit gefasst. Bei der engeren Variante würden 57 Prozent aller Haushalte der Mittelschicht angehören, bei der breiteren Variante gar 75 Prozent. Wobei bei letzterer Variante die Mittelschicht schon dort beginnt, wo die Wissenschaft Armutsgefährdung annimmt.
Eine Studie der Nationalbank hat zur Definition der Mittelschicht noch zwei weitere Kriterien herangezogen: Vermögen und Konsumausgaben. Legt man die drei Kriterien übereinander, so zeigt sich, dass nur noch 19,2 der Haushalte in allen Definitionen der Mitte vertreten sind.
Reich sind die anderen
Am breitesten wird die Mitte dann, wenn es nach der Selbstdefinition geht: Kaum jemand will sich selbst zu den Armen rechnen – und schon gar nicht zu den Reichen. Die Nationalbank hat abgefragt, ab welchem Vermögen man einen Haushalt als reich bezeichnet. Das Ergebnis: Mit steigendem eigenen Vermögen steigt auch die subjek- tive Reichtumsschwelle. Im ersten Dezil (die zehn Prozent ärmsten Haushalte) wird Reichtum mit 320.000 Euro festgelegt, im obersten Dezil bei 1,6 Millionen Euro. Reich ist demnach, wer etwas mehr zur Verfügung hat als man selbst.
Wer in der Früh aufsteht . . .
Auf diesen breiten Mittelschichtsbegriff laut Selbstwahrnehmung zielt offensichtlich auch die SPÖKampagne ab. Die SPÖ definiert Mittelschicht exemplarisch: „Männer und Frauen, die in der Früh aufstehen, um arbeiten zu gehen. Die Großmutter, deren größte Angst es ist, ein Pflegefall zu werden, weil sie ihren bescheidenen Wohlstand an die Kinder weitergeben möchte. Der Vater, der sich um die Existenz seiner Familie sorgt, weil er arbeitslos geworden ist und im neuen Job weniger verdient. Oder die Frau, die monatelang auf ihre Untersuchung warten muss, weil sie es sich privat nicht leisten kann.“Und wer gehört nicht zur Mittelschicht? Da bleibt das SPÖ-Konzept Antworten schuldig. „Jedenfalls nicht die, die von Vermögen, Zinsen und Dividenden leben“, so ein Sprecher.
Die Nationalbank hat übrigens eine Kluft innerhalb der Mitte ausgemacht: Es gebe bei ähnlichen Einkommensverhältnissen einen vermögensstarken und einen vermögensschwachen und von Abstieg bedrohten Teil. Diese entscheidende Kluft werde im Wesentlichen durch ein Kriterium markiert: den Immobilienbesitz. Wer im Eigenheim oder in der Eigentumswohnung lebt, kann Vermögensreserven aufbauen. Der Immobilienbesitz wiederum ist großteils vererbt.
ÖVP fördert Eigenheime
Insofern hat sich auch die ÖVP an einem entscheidenden Punkt in die Mittelschichtsdebatte eingeschaltet: Sie will die Förderung der Eigenheime und Eigentumswohnungen forcieren.