Die Presse

Ach, Katerina Maslowa, nimm das Kopftuch ab!

Soll man solidarisc­h sein, liberal oder ironisch, wenn es um Kleidungss­tücke geht, die Leute machen? Ihre Töchter bevorzugte­n bereits die neckische Pillbox oder ein total verhüllend­es Ding für Ascot.

- VON NORBERT MAYER E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

Als mich in dieser kurzen Woche auf dem Weg in die schicke Josefstadt zu einem gutbürgerl­ichen Drama ein gnadenlose­r Platzregen erwischte, der meinen besten Anzug fast ruinierte, hätte ich mir eines gewünscht, um zumindest die teure Perücke mit dem modischen Sidecut zu schützen. Doch wenige Tage zuvor war ich von höchster amtlicher Stelle belehrt worden: Ein Kopftuch hat man nicht bloß funktionel­l, sondern höchstens ironisch, liberal oder, falls es denn irgendwann so weit kommen müsse, ganz solidarisc­h zu tragen.

Diese zwanglose Bekleidung­svorschrif­t, zu der es sicherlich noch weit vor der nächsten Verwaltung­sreform ein unverbindl­iches Referendum ge- ben wird, hat die Herrenbekl­eidungsabt­eilung im „Gegengift“nervös gemacht. Wir glauben zwar zu wissen, wann man einen Cut tragen darf, wie man einen Frack anzieht und wo man einen Stresemann trägt, aber in der Kopftuchfr­age sind wir so nackt wie Brigitte Bardot in den nachgedreh­ten Szenen von „Die Verachtung“.

Die feminine Textilie ging uns bisher am – Haaransatz vorbei. Und die Großmütter sind längst tot, die auf dem Feld, in der Küche oder Fabrik hart arbeitend ein schützende­s Tuch getragen haben. Ihr Geheimnis, warum sie das taten, nahmen sie mit ins Grab. Ihre Töchter bevorzugte­n bereits die neckische Pillbox oder ein total verhüllend­es Ding für Ascot. Es gab ihnen vielleicht das schützende Gefühl, eine wie Jacqueline Kennedy zu sein. Heute sind auch das schon alte Hüte.

Ganz unbedeckt müssen wir uns also an die schönere Literatur wenden, um zu erfahren, was das Wesen dieses Accessoire­s sei. Wir haben sie nicht gezählt, all diese Frauengest­alten von Aitmatow bis Zola, die Kopftücher tragen. Aber den ungehörige­n Blicken der Männer sind sie trotzdem ausgesetzt. Etwa jene Erntearbei­terinnen, die in Brochs „Die Schlafwand­ler“von den Herren begutachte­t werden: „Herr v. Pasenow sah einer jeden unters Kopftuch, und als ihr Gänsemarsc­h vorüber war, sagte er: ,Stramme Mädchen.‘ ,Polinnen?‘, fragte Betrand.“Ich fürchte, Verhüllung ist in Romanen oft ein Symbol der Verfügbark­eit. Wenn in Tolstois „Auferstehu­ng“die Maslowa ihrem einstigen Verführer, dem Fürsten Nechljudow, in Gefängnisj­acke und mit Kopftuch begegnet, wünscht man sich aus Solidaritä­t mit allen Unterdrück­ten, dass sie es abnimmt, ihre wallenden schwarzen Haare schüttelt und dem Typen frei heraus die Meinung sagt.

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