Warum der Hass auf das verrottete „System“nur eine Ausrede ist
Kann die Bevölkerung in Österreich, Frankreich oder wo immer wirklich die Verantwortung für alles, was „schlecht und erbärmlich“ist, einfach abschieben?
Kennen Sie das „System“? Haben Sie es schon getroffen? Jenes „System“, das zurzeit in Europa und bei Bedarf in jedem Land irgendwie personalisiert zum Feind erklärt wird. Für die Stichwahl in Frankreich morgen, Sonntag, hat Marie Le Pen vom Front National, angekündigt: „Wir greifen dieses System an.“In ihren Augen ist es in Frankreich so „verrottet und verdorben“, wie das österreichische in den Augen mancher „verrottet und verkrustet“ist.
Das System ist geduldig. Es muss für alles herhalten: für den Niedergang der traditionellen Parteien wie bei den Präsidentenwahlen in Frankreich und Österreich etwa. Dann werden jene, die mit ihm zu tun haben, als erbärmliche, lächerliche Dummköpfe beschrieben, die nur Unsinn von sich geben. Dann wird es angeblich nur noch von einer abgehobenen, korrupten, geistlosen und ahnungslosen Elite gestützt.
Viele der Systemhasser sind in jenem rechten Spektrum zu Hause, in dem sie auch ihre unzufriedenen, frustrierten, ängstlichen, zukunftspanischen Anhänger vermuten. Deren vermeintliches wunschloses Unglück soll mit immer neuen Horrorgeschichten und Warnungen vor dunklen Mächten nur noch vergrößert werden: Alles im Leben sei schlecht, und daran sei „das System“schuld; nirgends tue sich ein Hoffnungsschimmer auf, alle anderen seien Versager, Heuchler, Blutsauger.
Ich frage mich seit einiger Zeit, wer, wenn nicht die vom System solcherart flächendeckend gequälten Bürger, für dieses selbst verantwortlich sein sollte? Darf man diese Frage überhaupt stellen? Sie spielt den Ball zurück an die Mehrheit der Bürger/Wähler, die jahrelang die Träger dieses nun so verteufelten Systems in die Positionen gebracht haben, es auszubauen. Der Hass auf „das System“wird als Ausrede verwendet. Das erspart jedes Nachdenken über den eigenen Anteil und die eigenen Verantwortung.
Wenn Le Pen sagt, sie greife das System an, greift sie dann nicht in Wahrheit die Mehrheit der Franzosen an? Das würde allerdings der erfolgreichsten Taktik der Rechten, dieses „Wir gegen die anderen“, die Berechtigung entziehen. Wäre es aber nicht redlich, die Mitverantwortung der Bürger zu thematisieren? Naiv vielleicht, ehrlicher aber sicher auch. Ein politisches System, das man angreifen, zerstören, abschaffen müsste, entsteht nicht von heute auf morgen.
In Österreich, scheint mir, haben wir es seit geraumer Zeit mit einer gesellschaftlichen Autoimmunerkrankung zu tun. Viel zu lang hat die Mehrheit der Österreicher von jener politischen Aufteilung der Republik in Rot und Schwarz profitiert, die nach 1945 den sozialen Frieden und den Wirtschaftsaufschwung gesichert hat – und zwar ganz persönlich profitiert: mit Posten, Wohnungen, Vergünstigungen, berechtigt oder nicht berechtigt. Ein Blick nach Niederösterreich genügt heute noch, um zu sehen, wie das über Jahrzehnte funktioniert hat – überall. Das war also das System, mit freundlicher Unterstützung der „Begünstigten“, das jetzt als verrottet und verkrustet wahrgenommen wird.
Wer aber hat SPÖ und ÖVP immer wieder in die gleichen Ausgangspositionen nach einer Wahl gebracht? Wer hat 1999 das Liberale Forum aus dem Parlament geworfen? Von wem droht den Neos das gleiche Schicksal? Das waren alles nicht die Systemträger selbst. Unsere eigene Abwehr dagegen hat versagt. Aber wir wollen die Verantwortung dafür nicht übernehmen. Wir hätten auch zwischen den einzelnen Urnengängen mit mehr Zivilcourage etwas dagegen tun können, auf dass wir uns die seit Jahren wiederkehrenden Autoaggressionsschübe ersparen könnten.
Auf einen einzigen Bereich trifft das nicht zu: auf die Globalisierung! Diese Entwicklung entzog sich weitgehend dem Einfluss Einzelner. Aber auch hier könnte man sich auf die positiven Aspekte konzentrieren. Alles nur immer verabscheuungswürdig und schändlich zu finden trägt nichts zur Gesundung bei.
Wir hätten auch zwischen den einzelnen Urnengängen mit mehr Zivilcourage etwas dagegen tun können.