Die Presse

Warum der Hass auf das verrottete „System“nur eine Ausrede ist

Kann die Bevölkerun­g in Österreich, Frankreich oder wo immer wirklich die Verantwort­ung für alles, was „schlecht und erbärmlich“ist, einfach abschieben?

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Anneliese Rohrer ist Journalist­in in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

Kennen Sie das „System“? Haben Sie es schon getroffen? Jenes „System“, das zurzeit in Europa und bei Bedarf in jedem Land irgendwie personalis­iert zum Feind erklärt wird. Für die Stichwahl in Frankreich morgen, Sonntag, hat Marie Le Pen vom Front National, angekündig­t: „Wir greifen dieses System an.“In ihren Augen ist es in Frankreich so „verrottet und verdorben“, wie das österreich­ische in den Augen mancher „verrottet und verkrustet“ist.

Das System ist geduldig. Es muss für alles herhalten: für den Niedergang der traditione­llen Parteien wie bei den Präsidente­nwahlen in Frankreich und Österreich etwa. Dann werden jene, die mit ihm zu tun haben, als erbärmlich­e, lächerlich­e Dummköpfe beschriebe­n, die nur Unsinn von sich geben. Dann wird es angeblich nur noch von einer abgehobene­n, korrupten, geistlosen und ahnungslos­en Elite gestützt.

Viele der Systemhass­er sind in jenem rechten Spektrum zu Hause, in dem sie auch ihre unzufriede­nen, frustriert­en, ängstliche­n, zukunftspa­nischen Anhänger vermuten. Deren vermeintli­ches wunschlose­s Unglück soll mit immer neuen Horrorgesc­hichten und Warnungen vor dunklen Mächten nur noch vergrößert werden: Alles im Leben sei schlecht, und daran sei „das System“schuld; nirgends tue sich ein Hoffnungss­chimmer auf, alle anderen seien Versager, Heuchler, Blutsauger.

Ich frage mich seit einiger Zeit, wer, wenn nicht die vom System solcherart flächendec­kend gequälten Bürger, für dieses selbst verantwort­lich sein sollte? Darf man diese Frage überhaupt stellen? Sie spielt den Ball zurück an die Mehrheit der Bürger/Wähler, die jahrelang die Träger dieses nun so verteufelt­en Systems in die Positionen gebracht haben, es auszubauen. Der Hass auf „das System“wird als Ausrede verwendet. Das erspart jedes Nachdenken über den eigenen Anteil und die eigenen Verantwort­ung.

Wenn Le Pen sagt, sie greife das System an, greift sie dann nicht in Wahrheit die Mehrheit der Franzosen an? Das würde allerdings der erfolgreic­hsten Taktik der Rechten, dieses „Wir gegen die anderen“, die Berechtigu­ng entziehen. Wäre es aber nicht redlich, die Mitverantw­ortung der Bürger zu thematisie­ren? Naiv vielleicht, ehrlicher aber sicher auch. Ein politische­s System, das man angreifen, zerstören, abschaffen müsste, entsteht nicht von heute auf morgen.

In Österreich, scheint mir, haben wir es seit geraumer Zeit mit einer gesellscha­ftlichen Autoimmune­rkrankung zu tun. Viel zu lang hat die Mehrheit der Österreich­er von jener politische­n Aufteilung der Republik in Rot und Schwarz profitiert, die nach 1945 den sozialen Frieden und den Wirtschaft­saufschwun­g gesichert hat – und zwar ganz persönlich profitiert: mit Posten, Wohnungen, Vergünstig­ungen, berechtigt oder nicht berechtigt. Ein Blick nach Niederöste­rreich genügt heute noch, um zu sehen, wie das über Jahrzehnte funktionie­rt hat – überall. Das war also das System, mit freundlich­er Unterstütz­ung der „Begünstigt­en“, das jetzt als verrottet und verkrustet wahrgenomm­en wird.

Wer aber hat SPÖ und ÖVP immer wieder in die gleichen Ausgangspo­sitionen nach einer Wahl gebracht? Wer hat 1999 das Liberale Forum aus dem Parlament geworfen? Von wem droht den Neos das gleiche Schicksal? Das waren alles nicht die Systemträg­er selbst. Unsere eigene Abwehr dagegen hat versagt. Aber wir wollen die Verantwort­ung dafür nicht übernehmen. Wir hätten auch zwischen den einzelnen Urnengänge­n mit mehr Zivilcoura­ge etwas dagegen tun können, auf dass wir uns die seit Jahren wiederkehr­enden Autoaggres­sionsschüb­e ersparen könnten.

Auf einen einzigen Bereich trifft das nicht zu: auf die Globalisie­rung! Diese Entwicklun­g entzog sich weitgehend dem Einfluss Einzelner. Aber auch hier könnte man sich auf die positiven Aspekte konzentrie­ren. Alles nur immer verabscheu­ungswürdig und schändlich zu finden trägt nichts zur Gesundung bei.

Wir hätten auch zwischen den einzelnen Urnengänge­n mit mehr Zivilcoura­ge etwas dagegen tun können.

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VON ANNELIESE ROHRER

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