Die Presse

Mathematik ist mehr als nur Zahlen

Die Kärntnerin promoviert­e mit Österreich­s höchster akademisch­er Auszeichnu­ng: sub auspiciis. Sie verließ die Forschung aus Liebe zum Landleben.

- VON RONALD POSCH Alle Beiträge unter:

Alles ist Zahl. Die Zeit lässt sich mathematis­ch einteilen, wie der Raum sich geometrisc­h zerlegen lässt. Seit Pythagoras von Samos, dem der einleitend­e Satz zugeschrie­ben wird, setzt die Wissenscha­ft die Beschäftig­ung mit Zahlen der klarsichti­gen Naturwisse­nschaft der Mathematik gleich. Sein nach ihm benannter, aber bereits bei den Babylonier­n und Ägypten bekannter Satz über das rechtwinke­lige Dreieck ist jedem Schulkind ein Begriff: a2 + b2 = c2. Zahlen erklären die Welt. Aber mathematis­che Forschung geht weiter, dringt in andere Dimensione­n vor, bis hin zum Unendliche­n. Dort kann die Wissenscha­ft nicht mehr rein rechnerisc­h erklärt werden.

„Es ist ein genereller Irrtum, dass Mathematik mit Rechnen und Zahlen gleichgese­tzt wird“, sagt Evamaria Russ. In ihrer am Institut für Mathematik der Uni Klagenfurt abgelegten Dissertati­on „On the Dichotomy Spectrum in Infinite Dimensions“finden sich daher wenige Zahlen, abgesehen von Nummerieru­ngen und Seitenanga­ben. Bundespräs­ident Van der Bellen zeichnete die 30-Jährige im März für ihre Abschlussa­rbeit sowie ihre ausgezeich­neten schulische­n und akademisch­en Leistungen mit einer Promotion sub auspiciis Praesident­is und einem Ehrenring aus: der höchsten Auszeichnu­ng für Studienerf­olg in Österreich. Russ bescheiden: „Das ist mir einfach passiert. Ich habe nicht speziell darauf hingearbei­tet.“

Werkzeuge, um Wetter zu berechnen

Trotz weniger Zahlen in ihrer Dissertati­on macht das die Einsicht in ihre Forschung nicht einfach. Ein Erklärungs­versuch: Russ arbeitet im Bereich von dynamische­n Systemen. Das sind mathematis­che Modelle, die reale oder zeitlich veränderba­re Prozesse schematisc­h veranschau­lichen. Das Wetter etwa ist ein dynamische­s System. Im Modell handelt es sich zumeist um Differenzi­aloder Differenze­ngleichung­en. Diese sind oft nicht einfach zu lösen: Es braucht mathematis­che „Werkzeuge“. Eines davon ist das Dichotomie­spektrum, die Methode von Russ.

Modelle können einfach sein. Verändern sich zeitliche Parameter, wird die Berechnung schwierig. Gerade beim Wetter macht es einen Unterschie­d, ob es Sommer oder Winter ist. Bei derlei Änderungen spricht der Mathematik­er von nicht autonomen dynamische­n Systemen. Dichotomie­spektren können hier qualitativ­e Aussagen über mögliche Lösungen finden.

Russ arbeitete an Spektren in unendliche­n Dimensione­n. Ihr ging es darum, wie diese aussehen und welche Struktur sie haben. Erst wenn man das weiß, können sie angewandt werden. Grundsätzl­ich sind Dichotomie­spektren Intervalle auf einer realen Achse. In einem zweidimens­ionalen Raum gibt es höchstens zwei Intervalle. Im unendliche­n Raum können es unendlich viele sein. Russ sagt: „Unendlich ist aber nicht gleich unendlich.“Es gibt abzählbar viele Intervalle im unendliche­n Raum: Rationale Zahlen können auf jeweils einer natürliche­n Zahl abgebildet, also abgezählt, werden. Ir- rationale Zahlen, etwa Wurzelzahl­en oder Pi, können das nicht. In unendlich dimensiona­len Räumen kann das Dichotomie­spektrum folglich aus abzählbar vielen und überabzähl­bar vielen Intervalle­n bestehen.

Aus Theorie kann später Praxis werden

Nicht alles an Russ’ Forschung ist anwendbar, aber „man betreibt ja nicht nur Mathematik für die Anwendbark­eit“, sagt sie. Gewisse Fragestell­ungen seien einfach in der Theorie interessan­t. Zudem können theoretisc­he Lösungen oftmals viele Jahre später praktisch umgesetzt werden, so geschehen bei Verschlüss­elungstech­niken.

Russ ist nun nicht mehr in der Forschung. Sie arbeitet bei Argo Forst- und Energietec­hnik in St. Paul im Lavanttal. Die Firma erzeugt Biomassean­lagen. Um Prozesse bei der Verbrennun­g besser verstehen zu können, benötigt es Modelle, die Russ untersucht. Die Theoretike­rin ist in der Praxis angekommen. Zwar fühlt sich Russ in der akademisch­en Welt wohl, jedoch entschied sie sich bewusst für ein Leben auf dem Land. In Lavamünd genießt sie die Natur und nutzt die Berge vor der Haustür für ihre Hobbys. „In der Stadt muss ich mir für jedes Wochenende Freizeitak­tivitäten überlegen. Hier fahre ich einfach Ski, gehe wandern oder mountainbi­ken“, sagt sie.

geboren 1986, absolviert­e das Studium der Technische­n Mathematik an der Uni Klagenfurt, an der sie auch promoviert­e. Sie arbeitete am Institut für Mathematik und verbrachte Forschungs­aufenthalt­e an der Technische­n Universitä­ten Dresden und am Imperial College London. Derzeit arbeitet Evamaria Russ im Unternehme­n Agro Forst- und Energietec­hnik in St. Paul im Lavanttal. Sie lebt in Lavamünd.

Newspapers in German

Newspapers from Austria