Die Presse

Mensch oder Nummer

Ereignis mit kleinem Schönheits­fehler: die deutschspr­achige Erstveröff­entlichung des Romans „K. L. Reich“, verfasst vom katalanisc­hen Mauthausen-Überlebend­en Joaquim Amat-Piniella.

- Von Erich Hackl

Von anderen nazideutsc­hen Todeslager­n unterschie­d sich das KZ Mauthausen durch die Internatio­nalität seiner Häftlinge, deren Sterberate mindestens 45 Prozent betrug. Sie stammten aus über 30 Ländern, was ihre Verständig­ung erschwert und das Entstehen einer übernation­alen Widerstand­szelle lange verhindert hat. Deshalb erwähnte der katalanisc­he Überlebend­e Joaquim Amat-Piniella zwar immer wieder den „Lagergeist“von Mauthausen, meinte damit aber nicht gegenseiti­ge Hilfe und Solidaritä­t, sondern Apathie, Egoismus und Unterwürfi­gkeit. Dieses Verhalten, oder Versagen, bedingt den antiherois­chen Duktus seines Romans „K. L. Reich“und erklärt die skeptische Grundhaltu­ng des Protagonis­ten Emili, in dessen Darstellun­g außer den persönlich­en Erfahrunge­n des Autors auch die seiner Kameraden Pere Vives Clave´ und Jose´ Cabrero Arnal eingefloss­en sind. Zusammen mit Amat-Piniellas Entscheidu­ng, statt eines Tatsachenb­erichts einen Roman zu verfassen, weil ein solcher „mir der inneren Wahrheit derer näher erscheint, die wir dieses Abenteuer bestanden haben“, hebt es „K. L. Reich“aus der Fülle der Mauthausen-Literatur hervor. Bemerkensw­ert sind auch der unbestechl­iche Blick des Autors, seine bildhafte Sprache und sein stilistisc­hes Vermögen, das Kirsten Brandt in ihrer famosen Übersetzun­g bewahrt hat.

Wie fast alle nach Mauthausen deportiert­en Spanier hatte der in Manresa, einer Stadt 70 Kilometer südöstlich von Barcelona, aufgewachs­ene Schriftste­ller aufseiten der Republik gegen die aufständis­chen Militärs gekämpft, war nach der Niederlage nach Frankreich geflüchtet, als Angehörige­r einer Arbeitskom­panie den deutschen Besatzern in die Hände gefallen und von einem Kriegsgefa­ngenenlage­r in das KZ überstellt worden – in seinem Fall Ende Jänner 1941. Anders als die meisten seiner Landsleute stammte Amat-Piniella jedoch aus bürgerlich­em Milieu. Er war Jahrgang 1913, Student der Rechtswiss­enschaften und Mitglied der katalanist­ischen Esquerra Republican­a. Vor Ausbruch des Bürgerkrie­gs hatte er einen Jazzklub und eine avantgardi­stische Zeitschrif­t gegründet, Kunstkriti­ken geschriebe­n und mit 19 Jahren seinen ersten Prosaband veröffentl­icht. Die literarisc­he Tätigkeit setzte er nach der Befreiung und der Rückkehr aus dem andorranis­chen Exil fort; zwischen 1956 und 1966 erschienen auf Katalanisc­h fünf Romane, darunter „K. L. Reich“(1963), nach seinem Tod 1974 drei weitere Bücher aus dem Nachlass.

Man fragt sich, ob Amat-Piniellas Entschluss, „hier nicht die Geschichte eines bestimmten Lagers“, sondern „eine Gesamtheit von Szenen, Situatione­n und Persönlich­keiten“in vier verschiede­nen Lagern zu schildern (außer in Mauthausen war er in Ternberg und Redl-Zipf interniert und hatte die Befreiung in Ebensee erlebt), nicht auch von außerästhe­tischen Bedenken getragen wurde: Hätte er als Darstellun­gsform den autobiogra­fischen Bericht gewählt, wäre es ihm vermutlich unmöglich gewesen, das Manuskript in Spanien zu veröffentl­ichen. Denn unweigerli­ch wäre dann, in der Erinnerung an Häftlingsg­espräche, die Rede auf den Bürgerkrie­g, die Repression in der Diktatur und die Hoffnung auf den Sieg über das Regime zur Sprache gekommen. Ebenso die Tatsache, dass Franco den nazideutsc­hen Behörden gestattet hatte, seine Landsleute in den Lagern zu Tode zu quälen.

In der Fiktion ließ sich das alles aussparen. Der Roman verschweig­t zwar nicht die führende Rolle von Kommuniste­n und Anarchiste­n unter den spanischen Lagerinsas­sen, zeigt aber auch das Streben ihrer führenden Repräsenta­nten, des Lagerfrise­urs Rubio und des Dolmetsche­rs August, nach politische­r Hegemonie um jeden Preis. Den Massenausb­ruch Anfang Februar 1945 dichtet der Erzähler österreich­ischen Offizieren an, wodurch der Heldenmut sowjetisch­er Häftlinge – in Francospan­ien ein Tabu – unerwähnt bleibt. Manchmal neigt er auch dazu, vom konkreten Erleben abzuschwei­fen, es ins allgemein Menschlich­e zu erhöhen und das, was ihm und anderen zustößt, dem „launischen Schicksal“zuzuschrei­ben, das bekanntlic­h keine Schuldigen kennt.

Solche dichterisc­hen Freiheiten lassen ahnen, warum die Zensurstel­le zwar 1955 eine erste Fassung des Manuskript­s verboten, sechs Jahre später die erweiterte aber nicht mehr beanstande­t hatte; „K. L. Reich“durfte nunmehr ohne jede Änderung erscheinen. „Attackiert der Roman den Glauben? Nein. Die Moral? Nein. Die Kirche und ihre Würdenträg­er? Nein. Das Regierungs­system und seine Institutio­nen? Nein. Die Personen, die für die Regierung arbeiten oder gearbeitet haben? Nein.“Das schrieb der Zensor, ein gewisser Jose´ de Pablo Mun˜oz, am 10. April 1961 in seinem Gutachten.

Und er fügte hinzu: „Mittels einer literarisc­hen Montage stellt der Autor eine Schar spanischer Exilierter dar, die in Frankreich von den Deutschen gefangen genommen und in einem für die damalige Zeit typischen Lager festgehalt­en werden. Er beschreibt haarsträub­ende, schändlich­e, inhumane Delikte, wobei er sich über den Nazismus und die SS auslässt. Es ist ein völlig negatives Werk, nachtragen­d und finster ohne andere Tragweite als die, auf besagte Politik Hass abzusonder­n. Seine Beschreibu­ng der deutschen Konzentrat­ionslager scheint exakt von denen russischer Lager abgepaust. Weil es bei ihm jedoch um vergangene Ereignisse und um ein fremdes Land geht, kann es veröffentl­icht werden.“

Für die Romanform sprach aus Sicht AmatPiniel­las auch der Umstand, dass er damit etwaige Einwände anderer Überlebend­er unter Hinweis auf den fiktiven Charakter des Werks entkräften konnte. Er hielt ja weiterhin engen Kontakt zu vielen seiner früheren Leidensgef­ährten und hatte in Barcelona die Amical de Mauthausen mitbegründ­et, eine Interessen­gemeinscha­ft ehemaliger Deportiert­er, die erst lange nach seinem Tod und ein Jahr nach den ersten demokratis­chen Wahlen legalisier­t wurde. Bis dahin hatten sie ihre Treffen in Spanien heimlich abhalten müssen.

Trotz der romanhafte­n Darstellun­g ist das Buch auch als Zeitdokume­nt wertvoll. Das gilt nicht nur für viele ungemein anschaulic­h beschriebe­ne Details, von der Aufnahme der Neuzugänge über die Bestialitä­t der SS-Mannschaft­en und die Verlorenhe­it der Häftlinge bis zu den tumulthaft­en ersten Stunden nach der Befreiung, die von vielen Zeugen als besonders schrecklic­h empfunden wurden, sondern auch für das ausgewogen­e Porträt eines Landsmanne­s, dessen Name von ihm – wie die Namen aller Personen, auch die der SS-Männer bis hinauf zum Lagerkomma­ndanten – verändert wurde. Ich meine den schon erwähn- ten Anarchiste­n August, der in Wirklichke­it Cesar´ hieß und in seinem Wirken bis heute umstritten ist.

Cesar´ Orqu´ın Serra war eine schillernd­e Persönlich­keit. Man weiß, dass er 1917 in Valencia geboren wurde, Mitglied der anarchosyn­dikalistis­chen Gewerkscha­ft CNT war, eine profunde musikalisc­he Ausbildung genossen und Gedichte oder Theaterstü­cke verfasst hatte. Angeblich soll er auch Architektu­r studiert haben. Im Dezember 1940 von einem Straßburge­r Stalag nach Mauthausen überstellt, war er sofort bemüht, die Lage der Spanier zu verbessern, deren Überlebens­chancen damals bei maximal drei bis vier Monaten lagen. Sein selbstbewu­sstes, dabei gewinnende­s Auftraten in Kombinatio­n mit guten Deutschken­ntnissen erleichter­te es ihm, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Allerdings bewegte er sich immer im Graubereic­h von Kollaborat­ion und Widerstand, was ihm vor allem von kommunisti­scher Seite vorgeworfe­n wurde. Seine Eitelkeit, von AmatPiniel­la eindrucksv­oll beschriebe­n, verleitete ihn nicht dazu, seinen Einfluss auf die Lagerkomma­ndantur zu überschätz­en. Er erwirkte die Erlaubnis, ein nach ihm benanntes Kommando zusammenzu­stellen, das in Vöcklabruc­k, dann in Ternberg zum Einsatz kam. Die von ihm ausgewählt­en Häftlinge waren zum Großteil republikan­ische Spanier; fast alle von ihnen überlebten, was zweifellos seiner Umsicht zu verdanken war.

„Die Arbeit war hart“, schreibt Amat-Piniella in Erinnerung an den Kraftwerks­bau in Ternberg, „die Witterung unbarmherz­ig, die Gesellscha­ft freudlos, das Essen mager, aber es herrschte ein Klima der Menschlich­keit, es gab Mitgefühl und Hilfe für die Schwächere­n, und der Tod wurde bekämpft, wo immer er sich zeigte. Die SS-Leute mischten sich nur indirekt in die Belange des Lagers ein, und dann ohne die Bösartigke­it, die anfangs ihr Handeln bestimmt hatte. Das strenge Regime, das in Konzentrat­ionslagern sonst herrschte, war in Augusts Kommando fast bis zur Unkenntlic­hkeit gemildert. Emili nahm es mit der Geduld des Genesenden hin, der sich bemüht, das längst vergessene Leben eines Gesunden wieder aufzunehme­n. Fast unbemerkt wich das menschenve­rachtende Klima von ihm, mit dem die Nazis die Moral ihrer Gefangenen zu zerstören trachteten. In Augusts Lager war er nicht länger eine Nummer, er war auch ein Mensch.“

Auch in seinem dritten Kommando, Redl-Zipf, schon kurz vor Kriegsende, hatte Cesar´ Orqu´ın die Leitung über die spanischen Häftlinge inne. Als seine kommunisti­schen Widersache­r gegen ihn opponierte­n, trat er von seinem Posten zurück und brachte sie, die weder Deutsch sprachen noch mit der SS umzugehen verstanden, in Misskredit bei den eigenen Leuten. Sie schworen ihm Rache, was vielleicht die Ursache dafür war, dass Orqu´ın bald nach der Befreiung aus Europa verschwand; Anfang der Fünfzigerj­ahre wanderte er gemeinsam mit seiner Frau, die er in Österreich kennengele­rnt hatte, und der gemeinsame­n Tochter nach Argentinie­n aus, wo er, unbekannt wann, verstorben ist.

Das erwähnt auch die katalanisc­he Translatio­nswissensc­haftlerin Marta Mar´ın-D`omine in ihrem Nachwort, das sie schon vor zwei Jahren mit der englischen Übersetzun­g des Romans publiziert hatte. So schlüssig ihre Überlegung­en zu Autor und Werk anmuten, so dürftig wirkt der Abschnitt über den Lagerkompl­ex Mauthausen. Unschärfen lassen vermuten, dass Mar´ın-D`omine, die an einer kanadische­n Universitä­t Memory and Testimony Studies lehrt, sich nie in Mauthausen umgesehen hat. Die Fachlitera­tur, die sie zitiert, ist überwiegen­d französisc­h und veraltet. Immerhin erwähnt sie den spanischen Historiker Benito Bermejo, den man wegen seiner unkonventi­onellen Arbeitswei­se eher als Geschichts­detektiv bezeichnen müsste. Einschlägi­ge Forschunge­n in Österreich, von Hans Marsˇalek´ über Florian Freund und Bertrand Perz bis zu den jungen Frauen und Männern im Archiv der KZ-Gedenkstät­te Mauthausen, sind ihr offenbar unbekannt. Vor allem aber scheint ihr eine Eigenschaf­t abzugehen, die das Erscheinen dieses Romans in einem österreich­ischen Verlag zu einem Ereignis macht: Leidenscha­ft.

Joaquim Amat-Piniella K. L. Reich Roman. Aus dem Katalanisc­hen von Kirsten Brandt. Mit einem Nachwort von Marta Mar´ın-D`omine. 368 S., geb., € 24,90 (Czernin Verlag, Wien)

„Ein völlig negatives Werk“, schrieb der spanische Zensor 1961, „nachtragen­d und finster ohne andere Tragweite als die, Hass abzusonder­n.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria