Die Presse

Die Lehren der Barbaren

Kein Hauch falscher Versöhnung: In seinem Roman „Jeder muss doch irgendwo sein“erzählt Dragan Veliki´c, seiner eigenen Familienge­schichte entlang, die Geschichte Jugoslawie­ns – erst faktentreu, dann als fulminante Arabeske um das, was zuvor an Wahrheiten

- Von Karl-Markus Gauß

Der serbische Autor Dragan Velikic´ ist europaweit mit einer ansehnlich­en Zahl von Romanen bekannt geworden, in denen er zwei Dinge, die auf den ersten Blick nicht recht zusammenpa­ssen, zu verbinden weiß: das fintenreic­he Spiel mit Verweisen, Spiegelung­en, falschen Fährten und den prinzipiel­len Verzicht auf Erfindunge­n. Wie Vladimir Nabokov, mit dem er manches teilt, etwa die hinreißend­e Beschreibu­ng von vermeintli­ch überflüssi­gen Details, ist er davon überzeugt, dass die Wirklichke­it selbst genügend Material hergibt, damit alle Geschichte­n, die es wert sind, erzählt zu werden, auch ohne erfundenes Beiwerk erzählt werden können. In seinem neuen Roman, „Jeder muss doch irgendwo sein“, heißt es an einer Stelle gar: „Ein echter Schriftste­ller erfindet nicht.“

Das sagt zwar nicht der Autor selbst und auch nicht der Erzähler, sondern eine Figur des Romans, nämlich die Mutter von beiden, aber die verficht nicht selten Dinge, die auch von Velikic´ selbst stammen könnten. Die Mutter von beiden? Ja, denn der Roman ist in zwei große Abschnitte geteilt, in denen einmal der Autor in Ich-Form unverhohle­n autobiogra­fisch von seiner Jugend und vom Leben seiner Mutter berichtet, um dann dieselbe Geschichte noch einmal erzählend aus der Er-Perspektiv­e aufzurolle­n und fortzuführ­en. Kein Zweifel, hier wird zuerst ein faktengetr­euer Bericht gegeben und dann eine fulminante Arabeske um das geboten, was zuvor an verbürgten Wahrheiten dargelegt wurde.

Der Roman setzt 1958 ein, als die Familie Velikic´ aus Belgrad nach Pula übersiedel­t. Der Vater ist Marineoffi­zier, die Mutter eine pedantisch­e Frau, die stets auf der Hut vor der schlimmstm­öglichen Wendung der Dinge blieb und von ihrer Jugend auf in einem Tagebuch festhielt, was immer um sie herum geschah: Wichtiges und Unwichtige­s, Aufregende­s und Alltäglich­es, denn sie kannte „keine Prioritäte­n, alles war ihr gleicherma­ßen bedeutsam“. Der Roman endet 2014, als Dragan Velikic´ ihn schreibt und sich im letzten Satz des Buches noch einmal direkt an die „liebe Mama“wendet, als habe er schreibend einen Auftrag von ihr erfüllt.

Die spirituell­e Mitte, von der aus die Geschichte einer Frau, einer Familie, eines Staates namens Jugoslawie­n zurück und voraus erzählt wird, bildet jener Tag im Juni 2000, als den Emigranten Velikic´ die Nachricht vom Tod seiner Mutter erreicht. Im Jahr zuvor war Velikic´ aus dem vom Fieber des Nationalis­mus ergriffene­n und von den Fliegern der Nato bombardier­ten Belgrad nach Budapest geflohen. Seine Mutter mit dem unglaublic­hen Gedächtnis, in dem Hunderte von Biografien gespeicher­t waren, hatte in ihren letzten Lebensjahr­en an Alzheimer ge-

Dragan Velikic´ Jeder muss doch irgendwo sein Roman. Aus dem Serbischen von Mascha Dabic.´ 304 S., geb., € 24,70 (Hanser Berlin Verlag, Berlin) litten und nach und nach alles vergessen, was sie vorher manisch aufgezeich­net hatte; es war, als hätte sie sich „erst durch das Vergessen von dem schweren Joch befreien können, das sie sich selbst auferlegt hatte“. Velikic´ zitiert eine medizinisc­he Studie, wonach viele derer, die im Alter an Alzheimer erkranken, bereits in ihrer Jugend beginnen, das Flüchtige in endlosen Listen festzuhalt­en oder eine auffällige Vorliebe für Rituale zu zeigen, die es ihnen erleichter­n, die Übersicht zu bewahren. Als er im Exil vom Tod der Mutter hört, ist der Sohn zuerst versucht, „dem Schmerz davonzulau­fen“, dann aber macht er sich daran, jene Welt, die die ihre war und in deren Glanz und Schatten er aufwuchs, minutiös aus dem eigenen Gedächtnis zu rekonstrui­eren.

Velikic´ ist stets ein scharfer Kritiker der jugoslawis­chen Kommuniste­n gewesen, doch jetzt, 20 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawie­ns, muss er sich, weil er die Geschichte seiner Mutter erzählen will, neuerlich mit seinem Land auseinande­rsetzen. Er überrascht seine Leser, indem er zwar nicht zu einer Verklärung Jugoslawie­ns ansetzt, aber diese Union mehrerer Nationalit­äten doch gegen jene Nationalst­aaten rechtferti­gt, in die sie zerfiel. Im ersten Teil schreibt er dazu: „Ein Mensch, der nie Titos Grab besuchte, ein Mensch, der nicht Mitglied des Bundes der Kommuniste­n war“, möchte er nun „eine Zeit vor dem Vergessen bewahren, die keineswegs schlimmer war als das, was danach kam, eine Zeit, in der die Mehrheit der Bevölkerun­g anständig leben konnte“. Und im zweiten, aus der distanzier­ten ErPerspekt­ive verfassten Teil prangert er in wütenden Tiraden jene Profiteure der neuen Ära an, die die Partisanen dämonisier­en und den jugoslawis­chen Staat in Bausch und Bogen verdammen: „Ihr Sieg nach dem Zerfall Jugoslawie­ns war nicht der Sieg einer Ideologie, sondern der Triumph einer Mentalität – im Grunde genommen war er das Abbild des negativen Potenzials im Menschen.“

Bei all dem verzichtet Velikic´ dennoch nicht darauf, weiterhin die jugoslawis­chen Heldenmyth­en zu entzaubern. Etwa wenn er vom Tod seines Onkels Dragomir erzählt, der bei den Partisanen kämpfte und von dem es zuerst hieß, bulgarisch­e Freischärl­er hätten ihn getötet, später, es wären die Tschetniks gewesen, und am Ende herauskomm­t, dass der Held der Familie von einem eifersücht­igen Kameraden ermordet wurde.

Der Roman erweitert sukzessive den Raum, in dem er spielt. Er ist eine präzise Erkundung der mythenumwo­benen Hafenstadt Pula, die Velikic´ schon in seinen Romanen „Via Pula“und „Dossier Domaszewsk­i“weniger als Schauplatz gewählt, als zum düsteren wie fasziniere­nden Protagonis­ten gemacht hat. Aber „Jeder muss doch irgendwo sein“spielt auch in Triest und in Rovinji, in Wien und in Thessaloni­ki. Zu Velikic’´ Jugend in Pula gehört eben auch eine alte Dame aus Thessaloni­ki, deren jüdische Familie über halb Europa verstreut lebte und die selbst irgendwann in Istrien strandete. Und zu deren Biografie gehört die steinreich­e deutsche Familie Hütterott, die einst sieben Inseln vor Rovinji besaß, das öde Land urbar machte und den Tourismus begründete, von dem die Stadt noch heute lebt. Die letzten zwei Repräsenta­ntinnen dieser Familie wurden 1945 von Partisanen ohne Gerichtsve­rhandlung getötet und ins Meer geworfen. Sie haben kein Grab, und das ist für Velikic,´ der menschlich­e Schicksale immer mit konkreten Orten verbindet, ein auch nach 70 Jahren nicht hinzunehme­ndes Skandalon.

So liegt über dem Buch, in dem er die Welt seiner Mutter in sinnlichen Details wiederaufe­rstehen lässt, kein Hauch von falscher Versöhnung. Mit oft erschrecke­nd harten, ja verstörend­en Worten prangert er eine Gegenwart an, in der „die kleinen gewöhnlich­en Leute“sich nach den Lehren der jeweils herrschend­en Barbaren richten. Seine Mutter hingegen rechnete noch zur Ära der „kleinen ungewöhnli­chen Leute“, sie hielt es mit den Dienstbote­n, Köchinnen und Zimmermädc­hen und hätte sich niemals die Mächtigen der Welt zum Vorbild genommen.

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[ Foto: Susanne Schleyer] „Ein echter Schriftste­ller erfindet nicht.“Dragan Velikic.´

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