Die Lehren der Barbaren
Kein Hauch falscher Versöhnung: In seinem Roman „Jeder muss doch irgendwo sein“erzählt Dragan Veliki´c, seiner eigenen Familiengeschichte entlang, die Geschichte Jugoslawiens – erst faktentreu, dann als fulminante Arabeske um das, was zuvor an Wahrheiten
Der serbische Autor Dragan Velikic´ ist europaweit mit einer ansehnlichen Zahl von Romanen bekannt geworden, in denen er zwei Dinge, die auf den ersten Blick nicht recht zusammenpassen, zu verbinden weiß: das fintenreiche Spiel mit Verweisen, Spiegelungen, falschen Fährten und den prinzipiellen Verzicht auf Erfindungen. Wie Vladimir Nabokov, mit dem er manches teilt, etwa die hinreißende Beschreibung von vermeintlich überflüssigen Details, ist er davon überzeugt, dass die Wirklichkeit selbst genügend Material hergibt, damit alle Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden, auch ohne erfundenes Beiwerk erzählt werden können. In seinem neuen Roman, „Jeder muss doch irgendwo sein“, heißt es an einer Stelle gar: „Ein echter Schriftsteller erfindet nicht.“
Das sagt zwar nicht der Autor selbst und auch nicht der Erzähler, sondern eine Figur des Romans, nämlich die Mutter von beiden, aber die verficht nicht selten Dinge, die auch von Velikic´ selbst stammen könnten. Die Mutter von beiden? Ja, denn der Roman ist in zwei große Abschnitte geteilt, in denen einmal der Autor in Ich-Form unverhohlen autobiografisch von seiner Jugend und vom Leben seiner Mutter berichtet, um dann dieselbe Geschichte noch einmal erzählend aus der Er-Perspektive aufzurollen und fortzuführen. Kein Zweifel, hier wird zuerst ein faktengetreuer Bericht gegeben und dann eine fulminante Arabeske um das geboten, was zuvor an verbürgten Wahrheiten dargelegt wurde.
Der Roman setzt 1958 ein, als die Familie Velikic´ aus Belgrad nach Pula übersiedelt. Der Vater ist Marineoffizier, die Mutter eine pedantische Frau, die stets auf der Hut vor der schlimmstmöglichen Wendung der Dinge blieb und von ihrer Jugend auf in einem Tagebuch festhielt, was immer um sie herum geschah: Wichtiges und Unwichtiges, Aufregendes und Alltägliches, denn sie kannte „keine Prioritäten, alles war ihr gleichermaßen bedeutsam“. Der Roman endet 2014, als Dragan Velikic´ ihn schreibt und sich im letzten Satz des Buches noch einmal direkt an die „liebe Mama“wendet, als habe er schreibend einen Auftrag von ihr erfüllt.
Die spirituelle Mitte, von der aus die Geschichte einer Frau, einer Familie, eines Staates namens Jugoslawien zurück und voraus erzählt wird, bildet jener Tag im Juni 2000, als den Emigranten Velikic´ die Nachricht vom Tod seiner Mutter erreicht. Im Jahr zuvor war Velikic´ aus dem vom Fieber des Nationalismus ergriffenen und von den Fliegern der Nato bombardierten Belgrad nach Budapest geflohen. Seine Mutter mit dem unglaublichen Gedächtnis, in dem Hunderte von Biografien gespeichert waren, hatte in ihren letzten Lebensjahren an Alzheimer ge-
Dragan Velikic´ Jeder muss doch irgendwo sein Roman. Aus dem Serbischen von Mascha Dabic.´ 304 S., geb., € 24,70 (Hanser Berlin Verlag, Berlin) litten und nach und nach alles vergessen, was sie vorher manisch aufgezeichnet hatte; es war, als hätte sie sich „erst durch das Vergessen von dem schweren Joch befreien können, das sie sich selbst auferlegt hatte“. Velikic´ zitiert eine medizinische Studie, wonach viele derer, die im Alter an Alzheimer erkranken, bereits in ihrer Jugend beginnen, das Flüchtige in endlosen Listen festzuhalten oder eine auffällige Vorliebe für Rituale zu zeigen, die es ihnen erleichtern, die Übersicht zu bewahren. Als er im Exil vom Tod der Mutter hört, ist der Sohn zuerst versucht, „dem Schmerz davonzulaufen“, dann aber macht er sich daran, jene Welt, die die ihre war und in deren Glanz und Schatten er aufwuchs, minutiös aus dem eigenen Gedächtnis zu rekonstruieren.
Velikic´ ist stets ein scharfer Kritiker der jugoslawischen Kommunisten gewesen, doch jetzt, 20 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens, muss er sich, weil er die Geschichte seiner Mutter erzählen will, neuerlich mit seinem Land auseinandersetzen. Er überrascht seine Leser, indem er zwar nicht zu einer Verklärung Jugoslawiens ansetzt, aber diese Union mehrerer Nationalitäten doch gegen jene Nationalstaaten rechtfertigt, in die sie zerfiel. Im ersten Teil schreibt er dazu: „Ein Mensch, der nie Titos Grab besuchte, ein Mensch, der nicht Mitglied des Bundes der Kommunisten war“, möchte er nun „eine Zeit vor dem Vergessen bewahren, die keineswegs schlimmer war als das, was danach kam, eine Zeit, in der die Mehrheit der Bevölkerung anständig leben konnte“. Und im zweiten, aus der distanzierten ErPerspektive verfassten Teil prangert er in wütenden Tiraden jene Profiteure der neuen Ära an, die die Partisanen dämonisieren und den jugoslawischen Staat in Bausch und Bogen verdammen: „Ihr Sieg nach dem Zerfall Jugoslawiens war nicht der Sieg einer Ideologie, sondern der Triumph einer Mentalität – im Grunde genommen war er das Abbild des negativen Potenzials im Menschen.“
Bei all dem verzichtet Velikic´ dennoch nicht darauf, weiterhin die jugoslawischen Heldenmythen zu entzaubern. Etwa wenn er vom Tod seines Onkels Dragomir erzählt, der bei den Partisanen kämpfte und von dem es zuerst hieß, bulgarische Freischärler hätten ihn getötet, später, es wären die Tschetniks gewesen, und am Ende herauskommt, dass der Held der Familie von einem eifersüchtigen Kameraden ermordet wurde.
Der Roman erweitert sukzessive den Raum, in dem er spielt. Er ist eine präzise Erkundung der mythenumwobenen Hafenstadt Pula, die Velikic´ schon in seinen Romanen „Via Pula“und „Dossier Domaszewski“weniger als Schauplatz gewählt, als zum düsteren wie faszinierenden Protagonisten gemacht hat. Aber „Jeder muss doch irgendwo sein“spielt auch in Triest und in Rovinji, in Wien und in Thessaloniki. Zu Velikic’´ Jugend in Pula gehört eben auch eine alte Dame aus Thessaloniki, deren jüdische Familie über halb Europa verstreut lebte und die selbst irgendwann in Istrien strandete. Und zu deren Biografie gehört die steinreiche deutsche Familie Hütterott, die einst sieben Inseln vor Rovinji besaß, das öde Land urbar machte und den Tourismus begründete, von dem die Stadt noch heute lebt. Die letzten zwei Repräsentantinnen dieser Familie wurden 1945 von Partisanen ohne Gerichtsverhandlung getötet und ins Meer geworfen. Sie haben kein Grab, und das ist für Velikic,´ der menschliche Schicksale immer mit konkreten Orten verbindet, ein auch nach 70 Jahren nicht hinzunehmendes Skandalon.
So liegt über dem Buch, in dem er die Welt seiner Mutter in sinnlichen Details wiederauferstehen lässt, kein Hauch von falscher Versöhnung. Mit oft erschreckend harten, ja verstörenden Worten prangert er eine Gegenwart an, in der „die kleinen gewöhnlichen Leute“sich nach den Lehren der jeweils herrschenden Barbaren richten. Seine Mutter hingegen rechnete noch zur Ära der „kleinen ungewöhnlichen Leute“, sie hielt es mit den Dienstboten, Köchinnen und Zimmermädchen und hätte sich niemals die Mächtigen der Welt zum Vorbild genommen.