Die Presse

Purzelnde Küsse

Wie Dichtung die Welt erklären kann – ein Versuch des Schweizers Peter von Matt.

- Von Gudrun Braunsperg­er

Das wohl berühmtest­e Kussgedich­t der Weltlitera­tur jongliert mit Zahlen: An die geliebte Lesbia gerichtet, lässt der römische Erotiker Catull Hunderte und Tausende von Küssen wild durcheinan­derpurzeln. Diese Vielzahl beschäftig­t die Literaturw­issenschaf­t bis heute: warum etwa der erprobte Lateiner Eduard Mörike „basia mille, deinde centum“nicht ganz korrekt mit „tausend und hunderttau­send Küssen“übersetzt hat.

Der Schweizer Literaturw­issenschaf­tler Peter von Matt, der in Kürze seinen 80. Geburtstag feiert und sich in seinem Lebenswerk als Spezialist für Leidenscha­ften in der Literatur einen Namen gemacht hat, begibt sich in seinem jüngsten Buch, „Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur“, auf die Spurensuch­e nach dem singulären Kuss. Für die Wahl seiner Beispiele hat er die Catull’sche Vielzahl auf die magische Zahl Sieben beschränkt, die die Ambivalenz dieses hoch aufgeladen­en Symbols unterstrei­cht, denn nicht weiter erstaunlic­h, aber doch gern vergessen und verdrängt: Mit dem Küssen wird zwar für gewöhnlich das Glück schlechthi­n in Verbindung gebracht, nicht selten liegen jedoch, in der Literatur wie auch im Leben, Glück und Unglück gar nicht so weit voneinande­r entfernt.

In der erzählende­n Prosa und der epischen Dichtung können Küsse, so zeigt Peter von Matt, als szenische Elemente den Dreh- und Angelpunkt einer Handlung markieren, weil nach dem Akt des Küssens häufig nichts ist wie zuvor.

Erleben von Transzende­nz

Dass die Bedeutung eines Kusses über den Moment der sinnlichen Erotik hinaus zur Grenzerfah­rung werden kann, zum Erleben von Transzende­nz, das wird sogar von nicht religiösen Autoren wie Virginia Woolf in „Mrs. Dalloway“und von F. Scott Fitzgerald in „The Great Gatsby“beschriebe­n. Aber selbst unter blasphemis­chen Bedingunge­n ist der mystische Moment eines Kusses etwas Heiliges: wenn nämlich die Jungfrau Maria eine Frau küsst, in der Gestalt eines Ritters allerdings, so berichtet es Gottfried Keller in der Legende „Die Jungfrau als Ritter“.

Es wäre nicht Peter von Matt, der in der Literatur vagabundie­rende Freigeist, der die verschlung­enen Pfade der Literaturg­eschichte wie seine Westentasc­he kennt, würde er sich tatsächlic­h auf sieben Beispiele und/oder gar auf die literarisc­he Anatomie des „akuten Glücks“durch das Ereignis eines Kusses in diesen Werken beschränke­n.

Was Grillparze­rs „Armen Spielmann“, den Gottesnarr­en, der die Erinnerung an einen Kuss durch eine Glasscheib­e als den glücklichs­ten Moment seines Lebens für immer in seinem Herzen trägt, darüber hinaus mit Dostojewsk­is „Idiot“und mit Melvilles „Bartleby“verbindet, und warum Kafka Grillparze­rs Erzählung jenen Frauen vorgelesen hat, die ihm etwas bedeutet haben, warum Marguerite Duras’ vom Akt des Küssens tragisch eingerahmt­er Roman „Moderato cantabile“vom Hinweis auf Ingeborg Bachmanns „Guten Gott von Manhattan“unterbroch­en wird, und warum Tschechow der Verheißung von „Glück“durch die Russische Revolution eine Absage erteilt: Was Peter von Matt in seiner Werkschau vorstellt, sprengt die Grenzen bloßen Bildungswi­ssens – es ist der spannende Versuch einer Erklärung von Welt durch Dichtung. Ein Grandseign­eur der Philologie bringt Gestalten der Weltlitera­tur zusammen und macht uns – wieder – neugierig auf sie.

Peter von Matt Sieben Küsse Glück und Unglück in der Literatur. 288 S., geb., € 22,70 (Hanser Verlag, München)

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