Zwiebeltürme, Veggie-Wraps, Electro-Beats
Ukraine. In Kürze ist Kiew Gastgeberin des Eurovision Song Contest. Ob man sich danach an seine Titel und Interpreten erinnern wird, steht in den Sternen. An die Stadt aber schon.
Geschafft: Der Flieger ist pünktlich, die Passkontrolle schnell und nett, der Geldumtausch ganz easy – und der pinkfarbene Sky Bus, zu dem ein Freund geraten hat, steht fast direkt neben dem Ausgang. Bei der letzten Ukraine-Reise vor fünf Jahren war hier noch alles etwas kleiner, manches provisorisch. Inzwischen hat sich der Kiewer Flughafen Boryspil zu einem schicken Airport mit fünf Terminals gemausert.
Der Fahrer wartet, bis der Bus etwas voller ist, dann kommt er zum Kassieren: 80 Hrywen sind es bis zur Endstation am Bahnhof, knapp drei Euro für 30 Kilometer. Das klingt wenig. Für viele Einheimische ist es ein Stundenlohn. Am Fenster huschen Kiefernwäldchen, neue Tennisplätze und Mauerreste aus der Sowjetzeit vorbei.
Wer beim ersten Stopp aussteigt, fährt mit der Metro weiter. Das geht schneller und ist spannender, denn oft führen die Gleise sehr weit nach unten: Als man die Tunnel und Stationen in den 1960er-Jahren baute, plante man, sie im Kriegsfall zum Schutz der Bevölkerung zu nutzen. Mit über 105 Metern unter der Oberfläche rühmt sich die Metrostation Arsenalna im Herzen Kiews, die tiefstgelegene der Welt zu sein. Mehr als fünf Minuten fährt man von dort auf zwei langen Rolltreppen nach oben. Die Zeit wird wie in der Metro zum Lesen genutzt – Smartphones und Tablets bevorzugt. Kostenloses Internet gibt es in der Stadt schließlich fast überall.
Volksmuseum der Korruption
Check-in im Ukraina. Der StalinProtzbau aus den 1950ern steht oberhalb des Maidan Nezalezhnosti. Zentraler schlafen, baden und brunchen geht nicht. Das schönste City-Panorama gibt es inklusive. Auch das Dach der ziemlich leeren Globus-Shoppingmall direkt vor dem Hotel dient als Aussichtsplattform. Ein Blick auf den Platz der Unabhängigkeit, Gedanken an die Orange Revolution von 2004 und die Euromaidan-Proteste vor drei Jahren. Ringsum erinnern viele Blumen, Kerzen, Bilder an die mehr als 80 Menschen, die den Sturz des korrupten Präsidenten Viktor Janukowitsch mit ihrem Leben bezahlten.
Das Luxusanwesen des kleptomanen Autokraten, die ehemalige Staatsresidenz Meschyhirja, 24 Kilometer von Kiew, kann heute als „Volksmuseum der Korruption“von jedermann inspiziert werden. Vor der Unabhängigkeitssäule mit der slawischen Göttin Berehynia obendrauf lassen sich am Nachmittag junge Leute von einem DJ zum spontanen Tanzwettbewerb animieren. Unterm Maidan 1, wo 2013/14 noch revolutionäre Feuer loderten, zelebriert das tiefer gelegte Restaurant Ostannya barikada (Die letzte Barrikade) die Auferstehung der ukrainischen Hausmannskost.
Unglaublich viel hat sich getan in Kiew. Die Metropole am Dnjepr, im Mittelalter eine der größten und reichsten Europas, als Haupt- stadt des ersten russischen Reiches (Kiewer Rus) auch „Mutter der russischen Städte“genannt, hat ihre sowjetische Vergangenheit abgestreift. Trotz aller massiven politischen und wirtschaftlichen Probleme im Land strotzt sie vor Optimismus und Lebensfreude, verblüfft ihre Besucher mit ihrer entspannten Dynamik und ansteckenden Leichtigkeit.
„Ukrainische Drogen“
„Willst du einmal probieren?“, fragt Alexej und zeigt auf verschiedenfarbig gefüllte Reagenzgläschen und bunte Häppchen. Der Student am Eingang zum Bessarabskyj rynok versteht seinen Job. „PigXel“steht über der Zwei-Quadratmeter-Bar, an der er seine Gäste diverse Specksorten und Schnäpse kosten und miteinander kombinieren lässt. Wissen muss man dazu, dass „salo“, Schweinespeck, das essbare Nationalheiligtum der Ukrainer ist, weshalb unter dem Ladenschild auch der diskrete Hinweis „ukrainische Drogen“steht.
Da Alex’ neuer Kunde weder mit Fleisch noch Alkohol zu ködern ist, füttert ihn der 24-Jährige mit Informationen, etwa über seine Freizeit. Die verbringt er nämlich hauptsächlich zusammen mit anderen jungen Kreativen in der freien „Kunstplattform“(Mistetzka Platforma), einer besetzten, leer stehenden Fabrik in der Innenstadt. „Es gibt Werkstätten, Ateliers und Proberäume, ein Cafe´ und einen Club, Platz für Konzerte, Partys, Ausstellungen und Spaß“, erzählt Alexej und lädt den Gast ein, demnächst doch einmal vorbeizuschauen.
Nach einem Rundgang durch die Gemüse-, Obst-, Fisch-, Speckund Käsepyramiden der Händler stößt man in einer Ecke der alten Bessarabska-Jugendstil-Markthalle auf Kiews angesagtesten veganen Foodcourt. Dort schmeckt es nicht nur fein, sondern es ist angenehm gesellig und obendrein fast peinlich günstig. Die Idee zu dem für ukrainische Verhältnisse avantgardistischen Gastroangebot hatte der 26-jährige Wowa, der in seinem Vintage-Musterstrickpullover nicht aussieht wie ein Unternehmer mit 20 Leuten Personal und einem 19-jährigen Direktor. „Wir wollten einmal etwas Neues machen“, beginnt der fast schüchtern wirkende Rotblondschopf die Geschichte seines Streetfood-Restau- rants, das er als Vegano Hooligano mit einem Partner gründete, heute als alleiniger Betreiber Green 13 nennt und an manchen Tagen bis zu 500 Gäste satt und glücklich macht.
Die meisten davon sind übrigens wie Wowa selbst weder Vegetarier noch Veganer. „Zum ersten Mal kommen die Leute aus Neugier – und danach, weil es ihnen schmeckt“, berichtet der gelernte Koch und Bäcker, der zwar nicht oft, doch gern einmal tote Tiere isst und trotzdem wahre Pionierarbeit in Sachen veganes Essen in seiner Stadt geleistet hat.
Lokal mit Fremdwortimport
Abgerundet wird das Angebot gleich nebenan im Buterbrod von Katja und Aljona – mit Snacks, Desserts und jeder Menge guter Laune. Denn die zwei Studentinnen der Philosophie und Landwirtschaft – beide 21 Jahre alt – blödeln die ganze Zeit herum. Am liebsten kleben sie sich Wörter auf die Stirn und spielen Ich-rate-wasich-bin. Der Name des Bistros – Buterbrod – klingt in österreichischen Ohren irreführend, denn das in früheren Sankt Petersburger Zeiten importierte Fremdwort be- deutet in den ostslawischen Sprachen nichts anderes als Sandwich, also ein mit irgendetwas (meist außer Butter und hier sowieso) belegtes Brötchen oder Brot.
Freikonzert mit Tauben
Daschas Brot ist trocken und auch schon etwas hart, genau richtig für ihre Freunde, die Tauben und Spatzen vom Goldenen Tor. Das mittelalterliche Stadtportal – halb Tempel, halb Burg – erinnert unwillkürlich an ostslawische Märchen. Eine Bank im Park davor ist der Lieblingsplatz der alten Dame. „Meine Wohnung ist gleich um die Ecke, aber was soll ich allein zu Hause?“, fragt die Pensionistin, die mit hundert Euro Rente im Monat über die Runden kommen muss. „Hier bin ich an der frischen Luft und immer in Gesellschaft“, plaudert sie und löffelt mitgebrachtes Essen aus einer Margarinedose. „Und abends hab ich öfters mein eigenes Konzert“, verrät Dascha. „Manche Leute trinken hier. Und wenn sie besoffen sind, machen sie Musik und singen“, schildert sie kichernd.
Irgendwo taucht immer einer auf, der den Weg zur nächsten Party kennt. Den einen oder andern Sänger kann man selbst treffen, wenn man durch die sehr belebten abendlichen Straßen läuft. Doch kaum jemand hat zu viel getrunken. Auch in den Clubs und Kneipen geht es ausgelassen, doch recht gesittet zu. Und irgendwie sind alle nett. Bei ein paar Drinks in der freundlich-schrägen Bar Pink Freud wächst die Tanzlust. Ein Tipp des Reiseführers: der Club Hlib (Das Brot). Und wo bitte soll der sein? Drei Raucher vor der Tür zücken wie auf Kommando ihre Smartphones und googeln für den Suchenden. Die Beschreibung war perfekt. Dumm nur, dass der Laden nicht mehr existiert.
„Das ist ganz normal. Locations öffnen, schließen wieder oder ziehen um“, sagt Kostja, der grad zufällig vorbeikommt. Der junge Mann ist auf dem Weg in einen anderen Club. „Komm doch mit“, sagt er und nimmt den verdutzten Fremden mit ins Closer. Das ist ein hipper Club in einer ehemaligen Fabrik, erinnert an die Neunziger im deutschen Osten – nur dass statt harten Technos mit Electroclash die Musik smooth und chillig ist und gut zum Tanzen.
Höhlenkloster, Kunstfassaden
Wie in anderen Clubs der Hauptstadt geht die Party bis zum nächsten Nachmittag. Aber wer am neuen Tag noch möglichst viel von Kiew sehen möchte, reißt sich beizeiten los, um sich noch etwas fit zu schlafen. Zeit und Kondition verlangt allein das „klassische“Besichtigungsprogramm: Petsherska Lawra – das hochheilige Höhlenkloster mit seinen unterirdischen lebenden und toten Mönchen, die Sophienkathedrale mit ihren 13 goldenen Zwiebeltürmen, das gigantische Mutter-Heimat-Denkmal, der Prachtboulevard Chreshtshatyk, die wunderschöne Oper. Ebenfalls ein Muss: der Handwerker- und Künstlerkiez Andreassteig rund um die Andreaskirche. Gleich um die Ecke lockt ein Spielplatz mit herrlichen Mosaikskulpturen Kinder wie Erwachsene in die Pejsazhnaja Alleja (Landschaftsallee). Der Park mit Katzenkletterburg und einer 25 Meter langen Katze, Prinzessin auf der Erbse, Kleinem Prinzen und Zebra-Liebespaar ist ein toller Ort zum Klettern, Träumen, Fotosmachen und Auf-der-Wiese-Sitzen. An einer Wagen-Bar gibt’s frisch gebrühten Kaffee und selbst gemachte Limo. Dann schließlich geht’s zu Kiews jüngsten Sehenswürdigkeiten: große, großartige Kunst an Häuserwänden. Frisch, kreativ und weltgewandt scheint diese Flut der neuen Bilder die letzten Reste des ausgebleichten Sowjetanstrichs aus der Stadt zu waschen.