Schönheit am Rand der Autobahn
Kasachstan. Nirgends gibt es so viele Wildtulpenarten wie in dem zentralasiatischen Land. Durchaus ein Grund, um mit einer Gruppe Botaniker auf Raritätenjagd zu gehen.
Das sollen Tulpen sein? Diese Blumen auf dem Schotterboden, klein wie ein Schneeglöckchen, nur mit spitzeren, nach oben gerichteten Blüten? Nicht diese kräftigen Schnittblumen, deren Blüten so groß sind, dass man darin Ostereier verstecken könnte? Nirgendwo gibt es so viele verschiedene Tulpenarten wie im Südosten Kasachstans. 34 Arten verteilen sich über das riesige Land, Tulpenexkursionen führen aber nur in eine kleine Region: 600 Kilometer entlang der AlatauBerge von Almaty bis Taras, die übersetzt die bunten Berge heißen, weil sie in Hunderten Rot-, Grün-, Brauntönen schimmern. Vor diesen breitet sich die Steppe aus, auf deren kargen Wiesen halbwilde Pferde grasen, mit Besitzern, aber ohne Zaun. Wo sollen sie auch hinrennen? Es gibt nur die Weite. Und darauf bunte Blumen.
Einige Tulpen gedeihen nur auf diesem Fleckchen Erde. Nirgendwo sonst. „Tulpen sind so besonders in dieser Steppe. Man rechnet mit Hungerblumen – und findet dann diese Pflanzen, die so voller Leben sind“, erklärt der romantische Wissenschaftler in der Truppe. Er ist gemeinsam mit seiner Frau, die nur Romantikerin ist, unterwegs. Neben den beiden gehören zur Gruppe noch ein paar Städter mit Natursehnsucht und ein Fledermausexperte mit dem Wissen eines Lexikons.
Mit Botanikern und Biologen unterwegs zu sein, muss man lernen. Einfach nur aus dem Wagenfenster zu schauen, die Szenerie vorbeiziehen zu lassen und den eigenen Gedanken nachzuhängen – das geht nicht. Ständig ist man dabei, Wiesen und Hänge mit den Augen abzutasten, die Landschaft in jeder Einzelheit wahrzunehmen, konzentriert nach Blüten Ausschau zu halten. Tagträumen ist unmöglich. Es ist ein wenig so, als sitze man vor dem Rechner und versuchte eine Webseite querzulesen, während man scrollt. Nach einer Weile wird es schummrig im Kopf, bis man wieder aussteigt, vor einer Fläche steht, die kein Ende hat, und losmarschiert. Satte Wiesen voller wogender Blüten: von wegen! Die Botaniker halten am Rand einer Autobahn, um zwischen Abgasen und Staub Tulpen zu orten. „Es ist wie eine Sucht, wenn man nach ein paar Stunden etwas gefunden hat, wird man ganz eupho-
Gute Reiseberatung erteilt Dagmar Schreiber, die einige Reiseführer über Kasachstan verfasst hat und weiß, wo die Tulpen wachsen: kasachstanreisen@ aol.com, T.: 030/42 85 20 05.
Mit Air Astana via Astana nach Almaty. Ein kurzer Zwischenstopp in Astana empfiehlt sich, um die absurden architektonischen Superlative zu sehen. Stadtführungen bietet die regierungsunabhängige Astana Voyage: www.astanavoyage.kz, asemgul@tourism-astane.kz. risch,“zeigt sich einer begeistert. Die Euphorie der anderen hält sich in Grenzen über die paar Kleinstlebewesen zu ihren Füßen. Sie heißen Albertii und Buhseana, und dazu auch noch ganz gewöhnliche. Die Seltenheiten der Spezies, auf die die Gruppe aus ist, erfordern mehr detektivisches Gespür. Die einen wachsen nur auf Südhängen, die anderen nur im Schatten auf Schiefer, jede Tulpendiva hat da so ihre Eigenheiten.
Rares Exemplar
Die Diva der Stunde ist die Regeltulpe. Das Problem dabei: Sie blüht nur rund zwei Wochen im Jahr, und die sind schon um. Aber da man schon einmal in der Nähe ist . . . Die Suche führt hinein in die kasachische Steppe, hundert Kilometer von der alten Hauptstadt Al- maty entfernt. Die SchlaglochHauptstraße geht in einen einspurigen Weg über und weiter in eine Piste, die sich von der Umgebung nur durch etwas weniger Grasbewuchs vom Rest unterscheidet. In dem weiten, karg-grünen Tal riecht es herb und frisch nach Wermut. Keine Menschenseele, nirgends.
„Hinter dem Bach, an schattigen, steinigen Stellen haben wir im Vorjahr eine Regeltulpe gefunden“, erzählt Reiseleiterin Dagmar Schreiber. Weil auch dieses Exemplar ein zierliches Pflänzchen ist und zudem nicht in Signalfarben, sondern weiß blüht, ist intensivere Suche angesagt. Wildtulpen sind klein, man muss aufpassen, nicht draufzutreten. Statt also die Landschaft in ihrer Weite zu genießen, starren alle vor die Füße. Entdecken fette, schwarze Käfer, flech- tenbewachsene Steine und lila Blümchen, die aussehen wie Muster auf Omis Tischdecke. Alles ist ganz besinnlich, bis es plötzlich faucht: Eine Schlange liegt aufgerollt grün auf grün und streckt dem Tulpensucher ihren Kopf entgegen. Auf dem Foto klassifiziert sie der Fledermausexperte als „Vipera berus, Kreuzotter. Sehr giftig“. Merke: Die Wahrscheinlichkeit, eine Schlange zu sehen, scheint höher als eine rare Regeltulpe.
„Es gibt noch eine Stelle, wo welche wachsen,“meint die Reiseführerin, als alle wieder im Auto sitzen: Tanbaly, Unesco-Weltkulturerbe, dank 4000 Jahre alter Steingravuren, die die Besiedlung der Region erzählen – von Opferritualen, ersten Bauern, Nomaden, späten Künstlern. Aber das interessiert hier keinen. Mitten zwischen den Zeichnungen von Stieren und kopulierenden Wesen blüht sie, eines der Heiligtümer der Tulpenliebhaber: Der romantische Wissenschaftler, der Fledermausexperte und die naturbegeisterten Städter erklimmen das Schiefergestein, knien sich auf den Boden und huldigen mit ihren Kameras der Pflanze. Die Menschen vor 4000 Jahren haben sicher ähnliche Positionen eingenommen, nur andere Gottheiten hatten sie.