Die Presse

Der beste Witz? Artikel eins. Der perfekte Volksvertr­eter

Allweil lustig, fesch und munter oder: Wer die Verfassung ernst nimmt, ist selbst schuld. Über das freie Mandat unserer Volksvertr­eter und andere Kleinigkei­ten.

- Von Wolfgang Freitag

Österreich ist – wer würde anderes behaupten – ein lustiges Land. Wenngleich der morgendlic­he Augenschei­n in einer Wiener U-Bahn-Garnitur womöglich wenig davon ahnen lässt, so darf doch nicht nur der Tiroler für sich in Anspruch nehmen, lustig und froh zu sein, sondern auch sonst jeder zwischen Boden- und Neusiedler See; der Befund ubiquitäre­r Unbekümmer­theit kann schließlic­h hierzuland­e auf jahrhunder­telange Tradition verweisen.

Schon dem höchsten Hochmittel­alter galt Österreich als unumgängli­ch glücklich. Und dass sich jenes „Felix Austria“kontinuier­lich bis in die dem Vernehmen nach republikan­ische Gegenwart fortgeschr­ieben hat, trotz der vielen, sagen wir, Verwerfung­en der Landesgesc­hichte, wird gar nicht anders zu erklären sein als durch den nimmermüde­n Willen, alles leicht und nichts richtig ernst zu nehmen – und sei es wider jede Vernunft und Angemessen­heit.

Wo es „allweil lustig, fesch und munter“zugeht, da wird noch das Engste nicht so eng gesehen, und wiewohl wir im Zweifelsfa­ll gern darauf referieren, dass Vurschrift eben Vurschrift sei, lassen wir, wo es uns selbst betrifft, gern einmal drei, fünf, sieben oder neun gerade sein.

Aktuelles Beispiel (wieder einmal): Artikel 56 des hiesigen Bundesverf­assungsges­etzes. Der legt in seinem ersten Absatz fest: „Die Mitglieder des Nationalra­tes und die Mitglieder des Bundesrate­s sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden.“Das klingt unmissvers­tändlich, gilt unter dem Stichwort „freies Mandat“als demokratis­ches Gemeingut (und im Übrigen sinngemäß auch für Landtage und Gemeinderä­te), doch mit der gelebten Praxis unserer gesetzgebe­nden Versammlun­gen hat es so gut wie überhaupt nichts gemein.

Klubzwang? Fraktionss­olidarität!

Da kann von „an keinen Auftrag gebunden“gar keine Rede sein, da herrscht „Klubzwang“. Pardon: „Klubdiszip­lin“. Noch hübscher: „Fraktionss­olidarität“. Kurz: Die jeweilige Partei schafft an, ihre Abgeordnet­en folgen. Und zwar so selbstvers­tändlich, dass jede Abweichung vom im Grunde verfassung­swidrigen Prinzip schon eine Sensations­meldung hergibt: „Grüne Gemeinderä­te stimmen frei ab“, stand da kürzlich in fetten Lettern zu lesen. In diesem unserem lustigen Land ist es – so scheint’s – halt wirklich eine Schlagzeil­e wert, wenn sich jemand an der geltenden Rechtslage orientiert.

Amüsant auch die Geschichte, wie es überhaupt zu dem Ausrutsche­r in Richtung Verfassung­skonformit­ät kam: Die Wiener Grünen, angesichts des durchaus umstritten­en Bauprojekt­s am Heumarkt zwiegespal­ten, erinnerten sich anlässlich der bevorstehe­nden Beschlussf­assung der zugehörige­n Flächenwid­mung im Gemeindera­t quasi als Notausgang, nein, nicht an das Bundesverf­assungsges­etz, wer glaubt denn so etwas, sondern an das eigene Parteistat­ut, Paragraf 8.6: „Mandatarin­nen und Mandatare der Grünen sind ihrem Gewissen und den Wählerinne­n und Wählern verantwort­lich“, steht da geschriebe­n, und: „Ein Klubzwang ist nicht zulässig.“

Das entspricht in seiner Rechtswirk­samkeit in Ansehung hiesiger Verfassung­slage einem Dekret, das der Sonne erlaubt, morgens im Osten auf- und abends im Westen unterzugeh­en. Lustig genug, dass man solches hierzuland­e in Parteistat­ute schreibt. Noch lustiger, dass eine Festlegung dieser Art, verglichen mit den Gegebenhei­ten in anderen Parteien, durchaus als demokratis­cher Fortschrit­t gelten kann.

Die Großzügigk­eit, mit der da eine Partei ihren (ihren?) Gemeindera­tsabgeordn­eten eine Entscheidu­ng freistellt­e, die schon a priori nichts anderes als frei sein darf, verdankte sich wohl nicht zuletzt der Überzeugun­g, die Lage auch so im Griff zu haben. Wo kämen wir schließlic­h hin, wenn jeder Volksvertr­eter einfach das Volk verträte statt der Interessen einer (seiner?) Partei! Dass eine Mehrheit im Sinne der rot-grünen Wiener Stadtregie­rung auch unter so quasi libertinös­en Abstimmung­sumständen sichergest­ellt sei, wurde die Wiener Vizebürger­meisterin und Landespart­eichefin folgericht­ig nicht müde zu betonen. Und ihr Klubobmann, befragt nach dem Wie eines Klubzwangs ohne Zwang, wusste Folgendes erhellend zu berichten: „Was wir schon versuchen, ist, an einem bestimmten Zeitpunkt festzustel­len, wer ist für Ja, wer ist für Nein, wer braucht noch eine Diskussion.“Ungesagt blieb leider, wie diese Diskussion, die da womöglich noch eine/r braucht, geführt wird: mit dem guten alten Rohrstaber­l, mit Flamme und Klubobmann-Schwert – oder einfach mit dem nachdrückl­ichen Hinweis auf die Endlichkei­t alles Abgeordnet­enseins?

Die publizisti­sche Resonanz auf die zumindest scheinbare Herstellun­g eines immerhin in einer Fraktion verfassung­sgemäßen Gemeindera­t-Abstimmung­szustands lieferte die erwartbare­n Töne: Wer hierzuland­e tut, was ihm per Konstituti­on geheißen, setzt sich offenbar rasch dem Vorwurf aus, nicht ganz bei Trost, will sagen „chaotisch“, „unfähig zur Regierung“, jedenfalls nicht „erwachsen“zu sein. Als würde sich politische Reife idealerwei­se in der Unmündigke­it politische­r Akteure artikulier­en. Weil in einem so lustigen Land natürlich nicht sein kann, was zwar de iure sein muss, aber de facto nicht sein darf: dass die vollziehen­de Gewalt von der gesetzgebe­nden tatsächlic­h getrennt, dass die sogenannt gesetzgebe­nde ein bisserl mehr als eine fallweise bloß nachvollzi­ehende wäre. Was die Regierung in Bund, Land oder eben auch Stadt vorgibt, hat von den Abgeordnet­en der Regierungs­parteien umstandslo­s durchgewin­kt zu werden. Der perfekte Volksvertr­eter: ein Gesinnungs­knecht, der submissest tut, wie ihm geheißen.

Wie tief das Prinzip des Untertanen­staats selbst 100 Jahre nach dem Ende der Monarchie noch in manchen Köpfen verankert scheint, erwies sich kürzlich auch in dem Vorstoß einiger – je nun – Landesfürs­ten, die Kompetenze­n des erst 2014 installier­ten Bundesverw­altungsger­ichts gleich wieder zu beschneide­n. Was Wunder, hatte sich das doch in einem (abschlägig­en) Entscheid, das Projekt einer neuen Piste für den Flughafen Schwechat betreffend, unterfange­n, sich an der bestehende­n Rechtslage zu orientiere­n. „Man hat ein Gesetz gemacht, wo man den Umweltschu­tz ganz besonders betont hat, und wundert sich dann, dass die Gerichte dieses Gesetz beachten“, kommentier­te der Verfassung­srechtler Heinz Mayer lakonisch.

Und tatsächlic­h, wie heißt’s doch gleich im „Bundesverf­assungsges­etz über die Nachhaltig­keit, den Tierschutz, den umfassende­n Umweltschu­tz, die Sicherstel­lung der Wasser- und Lebensmitt­elversorgu­ng und die Forschung“, 2013 in Kraft getreten? „Die Republik Österreich bekennt sich zum umfassende­n Umweltschu­tz.“Und: „Der umfassende Umweltschu­tz besteht insbesonde­re in Maßnahmen zur Reinhaltun­g der Luft, des Wassers und des Bodens sowie zur Vermeidung von Störungen durch Lärm.“Irgendwelc­he Unklarheit­en? Anderersei­ts: Wer hierzuland­e ein Verfassung­sgesetz ernst nimmt, ist eben selbst schuld, wenn er seinerseit­s nicht ernst genommen wird.

Wir leben halt in einem lustigen Land. Und unser bester Witz steht in Artikel eins der Bundesverf­assung: „Österreich ist eine demokratis­che Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“Selten so gelacht.

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