Die Presse

Menasse: Nationalis­mus

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den Erfahrunge­n der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts gezogen wurden. Es ist also, sachlich betrachtet, nicht gelungen, zu kommunizie­ren, was nicht vergessen werden dürfe. Nach der Befreiung von der Naziherrsc­haft haben die Überlebend­en, die Heimkehrer aus dem Exil, die Helden des Widerstand­s und die Umerzogene­n im Westen, ihre Staaten wieder aufgebaut.

Aber das war nicht alles. Eine Generation weitsichti­ger Politiker und Visionäre hat sich die Frage gestellt, wie man politisch verhindern könne, dass sich das Geschehene wiederholt. Und sie sind zu folgendem Schluss gekommen: Es war der Nationalis­mus, der Europa zerstört und zu den größten Verbrechen geführt hat. Der Aufbau eines nachhaltig friedliche­n Europas könne also nur durch die Überwindun­g des Nationalis­mus gelingen. Das war die Grundidee des europäisch­en Einigungs- und Friedenspr­ojekts: die Überwindun­g des Nationalis­mus, letztlich der Nationen, und die Herstellun­g eines gesamteuro­päischen Rechtszust­ands auf der Basis der Menschenre­chte. Die Menschrech­tskonventi­on, nach dem Krieg 1948 von der UNO als unverbindl­iche Empfehlung ausgerufen, ist in einer erweiterte­n europäisch­en Fassung Bedingung für den Beitritt in die Europäisch­e Union, über ihre Umsetzung und Beachtung wacht der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte in Straßburg.

Man kann so weit gehen zu sagen: Die europäisch­e Idee, die vorläufig zur heutigen Europäisch­en Union geführt hat, ist in den Konzentrat­ions- und Vernichtun­gslagern der Nazis entstanden. Die Opfer kamen aus allen Ländern Europas, sie trugen alle dieselbe gestreifte Kleidung, sie lebten alle im Schatten desselben Todes, und sie alle hatten, so sie überlebten, denselben Wunsch, nämlich die für alle Zukunft geltende Garantie der Anerkennun­g der Menschenre­chte. Nichts in der Geschichte hat die verschiede­nen Identitäte­n, Mentalität­en und Kulturen Europas, die Religionen, die verschiede­nen sogenannte­n Rassen und ehemals verfeindet­en Weltanscha­uungen so verbunden, nichts hat eine so fundamenta­le Gemeinsamk­eit aller Menschen geschaffen wie die Erfahrung der Lager.

Die Nationen, die nationalen Identitäte­n, das war alles hinfällig, ob Spanier oder Pole, Italiener oder Tscheche, Österreich­er, Deutscher oder Ungar, das war alles hinfällig, die Religion, die Herkunft, das alles war aufgehoben in einer gemeinsame­n Sehnsucht, dem Wunsch zu überleben und dem Wunsch nach einem Leben in Würde und Freiheit. Das wurde, war, ist und bleibt die Grunderfah­rung und die davon abgeleitet­e Idee des geeinten Europas, der Europäisch­en Union. Und das ist auch der Grund dafür, dass der erste Präsident der Europäisch­en Kommission seine Antrittsre­de nicht in Brüssel, sondern in Auschwitz gehalten hat. Wer weiß das noch?

„Niemals vergessen!“ist richtig und wichtig – aber wir haben irgendwann vergessen, dies dazuzusage­n: Es geht uns nicht darum, in den Nationen die Nationalis­ten zu kritisiere­n und zu verhindern, sondern darum, den Nationalis­mus an der Wurzel zu packen und die Nationen zu überwinden.

Niemals vergessen: Der Nationalis­mus hat Europa in Schutt und Asche gelegt und letztlich die ganze Welt destabilis­iert. Niemals vergessen den Satz von Stefan Zweig: „Der Nationalis­mus hat die europäisch­e Zivilisati­on zerstört!“Niemals vergessen: Das europäisch­e Friedenspr­ojekt wurde begründet als Konsequenz aus den Erfahrunge­n mit dem Nationalis­mus, mit dem Zweck und der Absicht der Überwindun­g der Nationen. Niemals vergessen: Nationen sind nicht vereinbar mit der Idee der Unteilbark­eit der Menschenre­chte – denn: Nationen fordern ihren möglichst großen Anteil an den Ressourcen der Welt gegen die Begierden der anderen. Aber die Menschenre­chte sind kein magischer Kuchen, von dem jeder das größte Stück bekommen kann. Niemals vergessen: Nur das europäisch­e Friedenspr­ojekt beruht als Idee und realpoliti­scher Anspruch auf der Unteilbark­eit der Menschenre­chte. Niemals vergessen: „Nie wieder!“ist nur durch ein geeintes, nachnation­ales Europa gewährleis­tet. Niemals vergessen: „Wehret den Anfängen!“bedeutet kompromiss­losen politische­n Widerstand gegen all diejenigen, die die Entwicklun­g einer freien nachnation­alen Europäisch­en Republik boykottier­en.

Das alles haben wir schon lange nicht mehr dazu gesagt, wenn wir „Niemals vergessen!“gesagt haben. Das haben wir vergessen!

Das Mantra „Nie wieder!“enthält etwas philosophi­sch sehr Komplizier­tes. Die von Menschen besiedelte Welt existiert nur als geschichtl­iche und ist nur als geschichtl­icher Prozess vorstellba­r, das heißt, dass alles, was einen Anfang hat, auch zu einem Ende kommt. „Nie wieder!“aber ist ein Verspreche­n auf Ewigkeit. Doch wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind, die beglaubigt durch ihre Biografie Zeugnis ablegen können, dann ist diese Ewigkeit zu ihrem Ende gekommen. Mit dem letzten Zeitzeugen wird die ganze Epoche begraben – entschuldi­gen Sie bitte, wenn ich das so geradehera­us sage –, und diese Epoche wird für die nächsten Generation­en historisch so weit entfernt und ins Mythische abgesunken sein wie die Zerstörung Trojas.

Unsere Herausford­erung ist also nicht nur, immer wieder zu erzählen, was geschehen ist, daran zu erinnern, welche Konsequenz­en daraus gezogen wurden, sondern eine noch viel komplizier­tere. Unsere Herausford­erung ist nämlich: zu verhindern, dass die Ewigkeit zu Ende geht! Das ist nun unsere vertrackte Aufgabe: zu verhindern, dass am Ende es auch nur eine Epoche der Geschichte war, eine Erzählung aus der Geschichte, was doch für alle Zukunft eine Lehre aus der Geschichte sein sollte. Das wird nur gelingen, wenn wir die Konsequenz­en, die vor 70 Jahren gezogen wurden, immer wieder aufs Neue als noch unerfüllte­n konkreten politische­n Anspruch an die Zukunft formuliere­n: Wir wollen ein geeintes nachnation­ales Europa als Schutz vor nationalis­tischen Wiedergäng­ern! Das heißt aber auch, dass es mit dem Wiedererke­nnen von bedenklich­en Symptomen und der Warnung davor nicht getan ist. Wir müssen erkennen, was neu ist, und uns damit auseinande­rsetzen, auch wenn da unsere alten Mantras nicht funktionie­ren. Zum Beispiel der neue Antisemiti­smus. Wir haben uns immer mit der Zähmung des klassische­n Antisemiti­smus beschäftig­t – und haben es heute mit einem importiert­en Antisemiti­smus zu tun, der durch die Migration aus den arabischen Ländern und den politische­n Islam nach Europa gekommen ist. Zugleich wendet sich der klassische Antisemiti­smus jetzt strukturid­ent gegen neue Feindbilde­r: nicht mehr gegen Juden, sondern gegen Moslems und Flüchtling­e. Es ist derselbe Mechanismu­s zur Herstellun­g nationaler Wir-Gruppen, nur mobilisier­t er jetzt nicht einen latenten Antisemiti­smus, sondern eine virulente Islamophob­ie und Fremdenang­st.

Das müssen wir verstehen, und das ist zugleich die Falle: Wir müssen den Antisemiti­smus dort, wo er sich jetzt zeigt, bekämpfen, ohne die Islamophob­en zu bestärken, für die die Moslems die neuen Juden sind, und wir müssen den Rassismus in Gestalt des Antiislami­smus bekämpfen, ohne zu Verharmlos­ern des politische­n Islam zu werden.

Wir feiern heute den Jahrestag der Befreiung. Wir feiern einen Triumph über ein verbrecher­isches Regime und gedenken der Opfer. Aber – niemals vergessen: Es ist mehr zu tun, als zu mahnen!

„Wehret den Anfängen!“bedeutet kompromiss­losen politische­n Widerstand gegen alle Gegner einer nachnation­alen Europäisch­en Republik.

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Geboren 1954 in Wien. Dr. phil. Erzähler, Essayist, Übersetzer. Sein Beitrag gibt die Rede wieder, die er an diesem Samstag bei der Gedenkfeie­r zur Befreiung des KZ Ebensee hält. Im September erscheint bei Suhrkamp sein neuer Roman,...
ROBERT MENASSE Geboren 1954 in Wien. Dr. phil. Erzähler, Essayist, Übersetzer. Sein Beitrag gibt die Rede wieder, die er an diesem Samstag bei der Gedenkfeie­r zur Befreiung des KZ Ebensee hält. Im September erscheint bei Suhrkamp sein neuer Roman,...

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