Angriff auf die weiche Flanke Europas
Westbalkan. Wie Russland und die Türkei in das Vakuum stoßen, das der Westen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens zunehmend hinterlässt. Wladimir Putin setzt auf Orthodoxe und Energieabhängigkeit, Recep Tayyip Erdo˘gan auf die Muslime.
Split. Selbst EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte kürzlich: „Wenn die Europäische Union kollabiert, wird es einen neuen Krieg auf dem Balkan geben.“Bei seinem jüngsten Besuch im Kosovo erneuerte der deutsche Außenminister, Sigmar Gabriel, das Versprechen der EU, die Nachfolgestaaten Jugoslawiens und Albanien könnten mit der Aufnahme in die EU rechnen, wenn sie an demokratischen Reformen festhalten. Doch dieses 2003 von der EU in Thessaloniki feierlich gegebene Versprechen zieht nicht mehr.
Nach dem tendenziellen Rückzug der Amerikaner aus der Region und der Krise in der EU hat die Gemeinschaft an Integrationskraft eingebüßt, nicht nur bei den Eliten, sondern auch in den Augen der Bevölkerungen. Selbst in Serbien, das inmitten eines Verhandlungsprozesses mit der EU steckt. „Wir wollen Russland, nicht die EU“, riefen Abgeordnete des serbischen Parlaments Ende März, als EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini gerade über Fortschritte bei den Verhandlungen sprechen wollte.
Gazprom an der Spitze
Die Schwäche der EU hat ein Vakuum geschaffen, in das vor allem Russland und die Türkei stoßen wollen. Nachdem Russlands Präsident, Wladimir Putin, 2007 einen Kurswechsel in seiner Europapolitik vollzogen hat, sucht Russland verstärkt Verbündete auf dem Balkan. Wichtigstes Pfund für die Russen sind die orthodoxen Bevölkerungen, die traditionell große Sympathien für Russland empfinden. So in Serbien, in Bulgarien, in Mazedonien, Montenegro, auch in Griechenland.
Ökonomisch versucht Russland, Abhängigkeiten zu schaffen. Die meisten Balkanländer sind von russischen Gaslieferungen abhängig, in Serbien und Bosnien befindet sich die Ölindustrie schon in russischer Hand. Gazprom hat flächendeckende Tankstellennetze in der gesamten Region aufgebaut. Russische Banken kaufen lokale Banken und Betriebe auf. Der in die Krise geratene, größte kroatische Betrieb, Agrokor, etwa, der 15 Prozent des Inlandsprodukts erwirtschaftet, ist schon in den Händen russischer Investoren.
Putin möchte den russischen Einfluss ausbauen. Dazu gehört, eine weitere Integration der Region in die Nato zu verhindern. Das ist vor allem in Montenegro sichtbar. Denn Moskau möchte – wie schon der Zar vor 1914 – die montenegrinischen Häfen für die eigene Flotte nutzen. Ungeniert mischte sich Putin in die Innenpolitik des kleinen Landes ein. Seit Jahren finanziert Russland über Mittelsmänner die Bewegung gegen den Nato-Beitritt. Das jedenfalls behauptet die protransatlantische Regierung in Podgorica. Als sie eine Volksabstimmung gewann, kam es zu einem Putschversuch im Oktober 2016, in den Russland trotz aller Dementis auch nach Meinung westlicher Diplomaten involviert war.
Anderen Ländern bietet Putin Militärhilfe an. So sollen jetzt 29 MIGs und 30 T-72-Panzer an Serbien geliefert werden. Russische Militärs verfügen über einen Stützpunkt in Südserbien an der Grenze zum Kosovo, russische Militär- und Polizeiberater sind in der serbischen Teilrepublik von Bosnien und Herzegowina aktiv. Ein Referendum über die Loslösung der Republika Srpska ist durchaus möglich, auch wenn das Krieg bedeuten könnte. Kurzum: Putin kann auf dem Balkan zündeln, wenn und wann er will.
Duell mit Arabern in Bosnien
Auch die Türkei ist in den vergangenen Jahren aktiver geworden. Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ hat den muslimischen Bevölkerungen in Bosnien und Herzegowina, in der serbischen und montenegrinischen Sandschakregion, im Kosovo, in Mazedonien und Albanien seine Unterstützung zugesichert, in Bosnien auch militärische. Seiner Vision von einer Erneuerung des Osmanischen Reiches fehlt es zwar an größerer Wirtschaftskraft, seine religiös-autoritäre Ausrichtung ist jedoch für viele Muslime in der Region attraktiv.
Konkurrenz haben die Türken allerdings durch die Golfstaaten – allen voran Saudiarabien – erhalten. Die Emirate investieren in riesige Tourismusprojekte im Kanton Sarajewo, arabische Privatleute kaufen landwirtschaftlich genutztes Land sogar in Serbien und Kroa- tien. Ihren Fundamentalismus verbreiten die Araber vor allem in Bosnien. Sowohl die Türken als auch die Araber nehmen mit ihrem Geld Einfluss auf muslimisch dominierte Parteien. Türkische Institute versuchen, im Kultursektor Fuß zu fassen, und Diplomaten drängen die Bosniaken dazu, Türkisch als erste Fremdsprache in den Grundschulen einzuführen.
Zugleich wird Europas Position schwächer. Nicht die Demokratie setzt sich durch, sondern mehr und mehr aggressive autoritäre Regime. In Serbien ist es Regierungschef Aleksandar Vuciˇc´ gelungen, die Opposition zu zertrümmern, Medien gleichzuschalten und die Zivilgesellschaft mit Zuckerbrot und Peitsche auszuhebeln.
In Mazedonien drängte die sozialdemokratische Opposition mithilfe der EU den bis 2016 regierenden Regierungschef Nikola Gruevski von der Macht, doch da sie noch nicht in der Lage ist, eine neue Regierung zu bilden, besteht die Verfassungskrise weiter und kann in einen gefährlichen Nationalitätenkampf mit der albanischen Minderheit führen. Angesichts der Schwäche der EU sprach Albaniens Premier, Edi Rama, schon davon, Albanien, Kosovo und die albanischen Siedlungsgebiete in Mazedonien sollten sich zu einem Staat vereinen. Das würden Serbien und die slawischen Mazedonier nicht hinnehmen.
Weckruf für die EU
Der nach 1995 erste Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, der Schwede Carl Bildt, warnte kürzlich aus gutem Grund vor einem Krieg in Mazedonien. Nachfolger Bildts, wie der Österreicher Wolfgang Petritsch und der Deutsche Christian Schwarz-Schilling, weisen seit Jahren auf die zu weiche Politik der EU hin und fordern, endlich konsequent gegen die korrupten ethno-nationalistischen Regime vorzugehen.
Schwarz-Schilling sieht in der Krise der EU und dem Sieg Emmanuel Macrons bei der französischen Präsidentenwahl auch eine Chance, die Außen- und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft neu zu gestalten. „Jetzt muss eine Neuformulierung der europäischen Politik auf dem Balkan erfolgen“, erklärte er der „Presse“. Wird sein Ruf erhört?