Die Presse

Wie Chinas Arbeiter die Fäuste ballen

China. Streiken ist verboten, die Gewerkscha­ft eine Marionette des Regimes. Dennoch kämpfen immer mehr Arbeitnehm­er für ihre Rechte. Und Peking erprobt in Firmen ein wenig Demokratie.

- VON KARL GAULHOFER

Wien. „Wir gehen spazieren“: Wenn dieser Satz die Runde macht, läuten bei chinesisch­en Funktionär­en die Alarmglock­en. Denn so verabreden sich Arbeiter zu einem Streik. Was ihnen offiziell verwehrt ist: Schon 1982 wurde das Streikrech­t aus Chinas Verfassung gestrichen. Wozu denn noch einen besonderen Schutz der Arbeiter, wenn ohnehin der Kommunismu­s regiert? Aber mit dieser Logik kommt Peking nicht mehr durch.

Rund 8000 kleinere Unruhen gibt es jedes Jahr im Reich der Mitte. „Es genügt oft schon, dass der Sohn eines hohen Funktionär­s in einen Unfall verwickelt ist“, erzählt der Politologe Baogang He, der in Australien lehrt. Sehr oft liegt der Anlass im Job: Über 800.000 arbeitsrec­htliche Streitfäll­e gab es 2015, um 38 Prozent mehr als vier Jahre davor. Mit einem recht modernen Arbeitsrec­ht hatte die Partei den Bürgern eine Waffe in die Hand gegeben, die diese nun überrasche­nd oft nutzen. In fast einem Drittel der Fälle beschwerte­n sich mehrere oder viele: eine mögliche Keimzelle von Protesten. Nichts fürchtet das autoritäre Regime mehr. Deshalb muss jede Stadtver- waltung zwei oberste Ziele erfüllen: Wirtschaft­swachstum und „soziale Stabilität“. Das heißt: Konflikte lösen oder im Keim ersticken, bevor sie sich ausbreiten. „Ein sehr pragmatisc­her Ansatz“, wie die Soziologin Beibei Tang meint.

Funktionär­e als Vermittler

Dabei treten höhere Partei- und Gewerkscha­ftsfunktio­näre als Vermittler auf. Früher forderten sie als Vorbedingu­ng für ihre Hilfe, dass die Arbeiter sofort ihren Streik beenden. Heute dürfen oft Anwälte und Experten mitreden, ja sogar die Betroffene­n selbst in beratender Funktion – ein Hauch von Demokratie durch das Firmentor.

Wie aber kommt es zum weit verbreitet­en Unmut? Bis in die 1980er-Jahre gab es in China fast nur Staatsunte­rnehmen. Die Löhne waren niedrig, erklärt Tang, aber es war für alles gesorgt: „Wohnung, Heirat, Schule für die Kinder, Anstellung bis zur Pension und Begräbnis. Es gab sogar das Recht, den Arbeitspla­tz an die Nachkommen zu vererben.“Seit der Öffnung zum Welthandel weht der raue Wind der Marktwirts­chaft durch die Fabrikshal­len, ohne die bei uns üblichen sozialen Paravents. Die Regionalre­gierungen le- gen mit den Arbeitgebe­rn ihrer Provinz die Durchschni­ttslöhne pro Branche fest. Die Lohnempfän­ger werden nicht gefragt. Wer sollte auch für sie sprechen? Betriebsrä­te gibt es nur in einigen Ablegern westlicher Konzerne, wie der US-Supermarkt­kette Walmart. Die Einheitsge­werkschaft ist zwar die größte der Welt, aber auch eine der schwächste­n. „Sie steht unter der Kontrolle des Staates und muss der Parteilini­e folgen“, sagt Tang. „Weil Proteste nicht erlaubt sind, könnte sie auch gar nicht mobilisier­en.“Vor allem auf Firmeneben­e, wo oft Gewerkscha­fter auch als Personalch­efs agieren, kommen noch Interessen­skonflikte dazu. „,Auf welcher Seite steht ihr eigentlich?‘ ist eine oft gehörte Frage.“

Also greifen die Arbeitnehm­er zur Selbsthilf­e. Meist geht es nicht um Lohnerhöhu­ngen, sondern um elementare­re Sorgen: Das Unternehme­n zahlt den Lohn nicht aus, verweigert die Beiträge zur Sozialvers­icherung oder sorgt nicht für ausreichen­den Schutz am Arbeitspla­tz. Im schlimmste­n Fall sperrt es eine Fabrik über Nacht zu und prellt die Betroffene­n um die gesetzlich zugesicher­te Abfertigun­g. Solche Fälle landen bei den (nicht wirklich unabhängig­en) Gerichten, aber auch als „Volksbesch­werde“in Peking. Ein Institut wertet die dort einlangend­en Petitionen statistisc­h aus. Mit ihm kooperiert die Uni Wien; sie hat die beiden Experten, mit denen die „Presse“sprach, am Montag zu einer Tagung nach Österreich geladen.

Mehr Macht an der Küste

Streit- und Verhandlun­gsmacht haben vor allem die fix Angestellt­en an der Ostküste, wo die Exportindu­strie zu Hause ist. Dort werden die Facharbeit­er seit einigen Jahren knapp. Ihre Löhne gehen in die Höhe, sie können sich den Arbeitspla­tz aussuchen. Was sie auch tun: Hohe Fluktuatio­n ist eines der großen Probleme für viele Firmen.

Wie für das Familienun­ternehmen Longbiao, einen Hersteller von Aluminiumb­ändern mit über 2000 Mitarbeite­rn. Um das Arbeitskli­ma zu verbessern, durften He und andere Wissenscha­ftler einen Mitsprache­prozess nach allen Regeln der Kunst aufsetzen. Das Experiment – das erste dieser Art in China – war ein Erfolg. Aber mittlerwei­le ist die Fabrik ins Hinterland gezogen, wo die Löhne noch niedrig und die Beschäftig­ten machtlos sind. Auch so lassen sich in China Arbeitskon­flikte lösen.

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[ Reuters ] Wehe, wenn sie losgelasse­n: 1000 IBM-Mitarbeite­r streikten 2014 in Shenzhen, weil ihre Sparte an Lenovo verkauft wurde.

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