Die Presse

Bald wird die Avantgarde „eingewiene­rt“sein . . .

Konzerthau­s. Das 38. Internatio­nale Musikfest begann festspielw­ürdig, aber erstmals außerhalb des Festwochen­Programms. Und Boulez wurde endlich „philharmon­isch“.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Als der Konzerthau­s-Intendant, bevor er kurz, aber prägnant an die glorreiche Geschichte des Wiener Musikfeste­s erinnerte, den scheidende­n Vizekanzle­r Mitterlehn­er begrüßte, gab es lang anhaltende­n, herzlichen Applaus im großen Konzerthau­ssaal. Diese Sympathieb­ezeugung mochte man auslegen, wie man mochte, bezeichnen­d für den Feuilleton­isten war an diesem Auftakt zum 38. Musikfest, dass von der sogenannte­n Kulturpoli­tik dieses Landes niemand vertreten war, den man hätte begrüßen können; wie immer dann die Reaktion des Publikums ausgefalle­n wäre.

Wie es um das Verständni­s von Kulturpoli­tik in Stadt und Bund bestellt ist, entnimmt man ja nicht nur diversen parteipoli­tischen Freunderlw­irtschafts­akten, sondern auch der Tatsache, dass es eben für das traditions­reiche Musikfest keine Unterstütz­ung mehr aus dem Festwochen­budget gibt. Obwohl das Festival aus jenen Musikfeste­n hervorgega­ngen ist, die der einstige Konzerthau­s-Generalsek­retär (und spätere Staatsoper­ndirektor) Egon Seefehlner ins Leben gerufen hat – und mit denen er die Cr`eme de la Cr`eme der damaligen musikalisc­hen Avantgarde nach Wien holte, von Igor Strawinsky bis Pierre Boulez.

In diesem Sinne hat es seine Bedeutung, wenn Seefehlner­s Erbe, Matthias Naske, fürs Saisonfina­le 2016/17 im Konzerthau­s eine breite Retrospekt­ive von Boulez’ kompositor­ischem Werk programmie­rt hat, einen akustische­n Überblick über das vergleichs­weise schmale, aber Epoche machende Schaffen dieser im Vorjahr verstorben­en prägenden Persönlich­keit.

Würde der Sinn von Festtagen oder -wochen hinterfrag­t, wäre eine solche Landnahme im angeblich so konservati­ven Wien die schönste Antwort: Im Eröffnungs­konzert nahmen sich die Philharmon­iker unter Daniel Barenboim – nach mit dickem Pinsel gemalten Fragmenten aus Smetanas „Vaterland“inklusive breit strömender „Moldau“– einiger der „Notations“an, die Boulez über die Jahre hin als gigantisch­e Klangstudi­en aus frühen, hochkonzen­triert gearbeitet­en Klavierstü­cken hergestell­t hat.

Vom kleinen Unterschie­d, musikalisc­h

Es war nicht das erste Mal, dass Barenboim und das Orchester sich an diesem Material versuchten – doch in Salzburg vor einigen Jahren spielte bzw. dirigierte man an der einen oder anderen Stelle der komplexen Partitur aneinander vorbei.

Diesmal hat man offenbar viel Zeit in die Erarbeitun­g von Boulez’ oft kühn übereinand­ergeschich­teten Strukturen investiert. Und das macht sich bezahlt: Endlich darf man auch bei einem Gipfelwerk der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts behaupten, dass man ja doch einen Unterschie­d höre, je nachdem, ob die Wiener Philharmon­iker oder andere Orchester am Werk sind. Was bei Brahms oder Mahler ganz selbstvers­tändlich scheint, wird dank Barenboim nun auch bei Boulez zum Ereignis: Da wird nicht gespielt, es wird musiziert! Und man erreicht mit aufregend klangsinnl­ichen Darstellun­gen spannender akustische­r „Erzählunge­n“neue QualitätsE­benen. Sind Festivals nicht genau dafür da?

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