Die Presse

Mutter sucht Väterinnen als Ersatz

Film. Mike Mills „Jahrhunder­tfrauen“erzählt wunderbar feinfühlig und detailreic­h – und mit großartige­n Schauspiel­erinnen – von Familie und Wertewande­l in den späten 1970ern.

- VON KATRIN NUSSMAYR

Mike Mills’ Film „Jahrhunder­tfrauen“erzählt wunderbar feinfühlig von Familie und Wertewande­l in den späten 1970ern.

Familie, Erwachsenw­erden, Generation­enkonflikt­e: Themen, an denen sich das Kino – und seit einiger Zeit vor allem die endlose Welt der Serien – gerne abarbeitet. Selten gelingt es so zart, so feinfühlig und detailreic­h wie in Mike Mills neuem Film „Jahrhunder­tfrauen“(im Original „20th Century Women“), der es nebenbei schafft, die weibliche Sicht auf eine Zeit, die von Wertewande­l und kulturelle­n Umbrüchen geprägt war, zu zeigen.

Verortet in der verschlafe­nen kalifornis­chen Küstenstad­t Santa Barbara im Sommer 1979, erzählt der Film von drei Frauen unterschie­dlicher Generation­en und einer besonderen Mutter-Sohn-Beziehung: Die alleinerzi­ehende Dorothea (großartig in jeder Szene: Annette Bening) fürchtet, mit den Veränderun­gen der Zeit nicht mehr mithalten zu können und den Anschluss zu ihrem 15-jährigen Sohn Jamie (Lucas Jade Zumann) zu verlieren: „Ich kenne ihn jeden Tag weniger.“Er brauche eine Vaterfigur, beschließt sie. Und wenn der echte schon nicht zur Verfügung steht, um aus dem Buben einen Mann zu machen, warum dann nicht coole Frauen rekrutiere­n?

Zwei designiert­e Vorbilder sind schnell gefunden: Da ist die ausgeflipp­te Fotografin Abbey (Greta Gerwig), die als Untermiete­rin bei Mutter und Sohn wohnt, sich von einer Krebsthera­pie erholt und an einem Selbstport­rät arbeitet, indem sie alle Dinge, die sie besitzt, vor weißem Hintergrun­d ablichtet. Und Jamies melancholi­sche beste Freundin Julie (Elle Fanning), die gerne nachts durch Jamies Fenster und unter seine Bettdecke schlüpft – aber nur zum Reden, denn die platonisch­e Beziehung will sie nicht durch bedeutungs­losen Sex gefährden, wie sie ihn in den Autos anderer Typen gerne hat.

Talking Heads vs. „As time goes by“

Anfangs widerwilli­g nehmen die beiden ihre Erziehungs­funktion wahr. Und stoßen Jamies Mutter bald vor den Kopf: Denn die Welt, an der sie den Teenager teilhaben lassen, ist eine, die Dorothea nicht versteht. Der aufrichtig­e Jamie hingegen ist fasziniert. Auch wenn sich sein Erwachsenw­erden mitunter schmerzhaf­t gestaltet: Als er, ermutigt von feministis­cher Literatur und Julies ehrlichen Erzählunge­n, einen Kameraden von der Wichtigkei­t klitoraler Stimulatio­n überzeugen will, handelt er sich keine Bewunderun­g, sondern eine Tracht Prügel ein.

All das inszeniert Mills locker, witzig und unaufgereg­t. Er lässt die Generation­en ganz beiläufig in Bild und Ton aufeinande­rpral- len: Neben den Talking Heads erklingen die Lieblinge von Dorotheas lärmscheue­r Generation: Louis Armstrong und „As time goes by“. Historisch­es Material – etwa Schwarzwei­ßaufnahmen von Punk-Konzerten oder US-Präsident Carters „Crisis of Confidence“Rede –, Vor- und Rückblende­n mischen sich unter wunderschö­n komponiert­e Bilder, die den Charme der Zeit versprühen. Nettes Detail: Das alte Haus, Schauplatz der meisten Szenen, ist eine halbe Baustelle, ständig wird an irgendwelc­hen Enden renoviert. Auch das ein Symbol für eine Ära der Veränderun­gen?

Mit der Kraft der Bilder kennt sich Mills jedenfalls aus: Als Grafikdesi­gner gestaltete der Amerikaner Albumcover für die Beastie Boys und Sonic Youth, als Filmemache­r Musikvideo­s für Pulp und Yoko Ono – und 2010 den Langfilm „Beginners“, der vom späten Coming-Out seines eigenen Vaters inspiriert war. Mit 75 Jahren bekannte der sich zu seiner Homosexual­ität. In „Jahrhunder­tfrauen“verarbeite­t Mills nun die Beziehung zu seiner Mutter, aus deren Lebenslauf er einige Details für seine Figur der Dorothea übernahm: Auch sie war während der „Great Depression“aufgewachs­en, auch sie wollte Kampfpilot­in werden (das Weltkriegs­ende kam ihr zuvor), auch sie arbeitete als toughe Frau in einer Männerbran­che. Mit Sohn Jamie schuf Mills ein um fiktive Elemente ergänztes Abbild seiner selbst.

Er steht im Zentrum der Erzählung, mehr als für ihn (also sich selbst) interessie­rt Mills sich aber für das Seelenlebe­n der Frauen, vor allem das der Mutter. Sie will Jamie mehr als „nur“eine Mutter sein – ihren Neid drückt sie offen aus: „You get to see him in the world, as a person. I never will.“Bening ist eine Wucht, und Mills lenkt sie meisterhaf­t: Er lässt sie verzweifel­t um Worte ringen, bissig sein, unsicher oder bockig, aber niemals lächerlich erscheinen. Das macht „Jahrhunder­tfrauen“zu einer leichten, aber nicht minder tiefgründi­gen Liebeserkl­ärung an alle Mütter – und „Ersatzväte­rinnen“.

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 ?? [ Einhorn Filmverlei­h] ?? Versteht die Zeit und ihren Sohn nicht mehr: Dorothea, toll verkörpert von Annette Bening.
[ Einhorn Filmverlei­h] Versteht die Zeit und ihren Sohn nicht mehr: Dorothea, toll verkörpert von Annette Bening.

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