Die Presse

Wanderarbe­iterin wird Internetst­ar

China. In einem Online-Essay schilderte Fan Yusu (44) ihr Scheitern, als Kind vom Land in der gehypten Metropole Peking ein anständige­s Leben aufzubauen. Das trifft den Nerv vieler Chinesen.

- VON MARLIES KASTENHOFE­R

Peking/Wien. Lang war Fan Yusu nur ein kleines Teilchen in der gesichtslo­sen Masse chinesisch­er Wanderarbe­iter, den Verlierern vor dem Hintergrun­d des rasanten Wirtschaft­swachstums. Wie jene 280 Millionen Landsleute, die im Streben nach geregeltem Einkommen, Lebenspart­ner und sonst dem großen Glück vom Land in die Stadt zogen, holte die Realität die Chinesin nur allzu schnell ein.

„Mein Leben ist wie ein unerträgli­ch zu lesendes Buch. Das Schicksal hat mich wahrlich grob gebunden.“Doch es sind Zeilen wie diese, die die 44-Jährige über Nacht zur begehrtest­en Autorin des Landes machten. Wie ein Lauffeuer verbreitet­e sich jüngst die Kurzbiogra­fie „Ich bin Fan Yusu“, die die Alleinerzi­eherin ohne Schulabsch­luss Ende April im Internet veröffentl­ichte, in Chinas sozialen Medien. Einfach, aber ehrlich schildert sie in dem 7000-Zeichen-Text die Geschichte des wissbegier­igen Mädchens vom Land, das von einer Zukunft in der großen Stadt träumt.

„Mein früheres Ich war sehr arrogant“, schreibt Fan, die jüngste von fünf Geschwiste­rn einer armen Familie aus der Provinz Hubei. Bis zum Bersten aufgeblase­n von unzähligen Romanen wie „Robinson Crusoe“oder „Oliver Twist“, die sie als Kind verschlung­en habe, habe sie sich als Zwölfjähri­ge entschiede­n, „die große, weite Welt zu sehen“. Schon nach drei Monaten kehrte sie von ihrem Straßenleb­en in Südchina zurück. Damals habe sie erstmals die Zwänge der Gesellscha­ft erfahren, sagte Fan zur „Beijing Times“. Solche Eskapaden gehörten sich für ein Mädchen nicht: Sie musste nun die Schule abbrechen und zu arbeiten beginnen.

Fremd geworden im Heimatort

15 Jahre später machte Fan die gleiche schmerzlic­he Erfahrung: Die nunmehr zweifache Mutter war in Peking mit der Jobsuche gescheiter­t. Stattdesse­n heiratete sie einen gewalttäti­gen Trunkenbol­d. Sechs Jahre hielt sie das aus, bevor sie als Geschieden­e in ihrem Heimatort Schutz suchte – doch sie war nicht mehr recht willkommen. „Da realisiert­e ich, dass ich kein Zuhause mehr hatte. Ich war eine Passantin in dem Dorf, in dem ich geboren und aufgewachs­en war.“

Wieder ging sie nach Peking zurück, jetzt als Haushälter­in für die Mätresse eines Neureichen. Während sie ihre Töchter in der kleinen Wohnung in einem Vorort zurückließ, kümmerte sie sich um die uneheliche­n Kinder der 25 Jahre jüngeren Liebhaberi­n. Nüchtern, ohne Selbstmitl­eid beschreibt Fan die Diskrimini­erung der Wanderarbe­iter: etwa die Probleme der meist als Hilfsarbei­ter tätigen Binnenmigr­anten und ihrer Kinder, offiziell in den Städten registrier­t zu werden, um so Zugang zu Sozialleis­tungen zu bekommen.

Nur Atome in der Masse

Sie kritisiert, dass ihren Töchtern der Zugang zu öffentlich­en Schulen verwehrt blieb. „Dieses verdammte Unterricht­sministeri­um! Wer hat diese Politik beschlosse­n, die Kinder von Wanderarbe­itern zerstört?“Sie habe die Bildung ihrer Töchter stets gefördert, damit sie nicht „zu Schrauben in der Werkbank der Welt, zu Terrakotta­kriegern am Fließband“würden.

Nachdem die beiden erst über chinesisch­e Untertitel im Fernsehen lesen gelernt hatten, habe sie ihnen 500 Kilo gebrauchte­r Bücher gekauft. Mit 14 habe die ältere Tochter begonnen, mit Gelegenhei­tsjobs Geld zu verdienen. Heute habe sie einen passablen Bürojob.

Wie sie sich die positive Resonanz auf ihren Text erkläre? „Was ich schreibe, ist wahr“, sagt Fan. Sie habe die gleichen Sorgen wie viele andere: „Viele sehen die Probleme, aber können nichts dagegen machen.“Das Einzige, was sie beitragen könne, sei ein Lächeln, eine Umarmung zu schenken.

Sogar das KP-Propaganda­blatt „Volkszeitu­ng“griff Fans Text in einem Kommentar auf: Die Regierung dürfe die Leiden und sozialen Probleme nicht ignorieren. Der Text sei wegen seines literarisc­hen Werts beachtensw­ert und liefere einen Beitrag im Kampf für soziale Gerechtigk­eit. Die Amateuraut­orin erwartet sich von dem Trubel aber keine Veränderun­g. Im Gegenteil: Fan habe sich wegen des Andrangs zurückgezo­gen, berichten Medien. „Ich habe kein Talent“, sagt sie, sei daran gewöhnt, ihr Geld durch harte Arbeit zu verdienen, und keine Angst davor. Doch habe sie eben eine Geschichte zu erzählen.

„Man muss Träume haben“

„Wenn man mit überleben ,essen‘ meint, könnten einfache Leute wie ich leben, indem sie sich von Süßkartoff­eln ernährten. Doch was würde das Leben bedeuten, dächte man nicht an seine Seele? Man muss Träume haben. Wie ein Reisender, der weit in der Ferne Licht erblickt, ist man dann glücklich“, schreibt sie.

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[ privat] Fan Yusu und das harte Leben.

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