Die Presse

Eine Tour mit neuem Blick Obdachlose zeigen ihr Wien

Supertramp­s. Wo nachts heimlich jemand schläft, wo Probleme lauern oder unsichtbar­e Tageszentr­en sind: Ein anderer Blickwinke­l auf Wien.

- VON CHRISTINE IMLINGER

Nein, es geht bei diesen Touren nicht zum Stephanspl­atz oder zum Riesenrad, auch hört man kaum etwas über Architektu­r oder Historie. Dafür zeigt einem Ferdinand (er besteht darauf, dass man ihn so nennt, wer ihn mehr als einmal siezt, der zahlt ihm ein Bier) eine ganze Welt, die man so auch in der eigenen Stadt oder im Wohnvierte­l nur bruchstück­haft wahrnimmt. Dass etwa das Möbelgesch­äft für Obdachlose oft eine seltene Gelegenhei­t ist, ein ZweiEuro-Schnitzel zu essen. Oder dass die hintersten Ecken des Heldenplat­zes auch Schlafplät­ze sind.

„Supertramp­s“, also Vagabunden, heißen die Guides (Fremdenfüh­rer darf man sich nicht einfach so nennen), und seit Ende 2015 führen fünf von ihnen durch ihr Wien. Veranstalt­et werden die Touren von einem Verein, der 2015 von der Katharina Turnauer Privatstif­tung gegründet wurde. Das Konzept wurde gemeinsam mit einer Regisseuri­n entwickelt, man wolle den öffentlich­en Raum schließlic­h gewisserma­ßen als Bühne nutzen, wie Projektman­agerin Teresa Bodner erklärt.

Gemeinsam über Sozialeinr­ichtungen wurden Obdachlose, Wohnungslo­se oder frühere Obdachlose gesucht, die (nach einer Schulung und nachdem gemeinsam eine Tour entwickelt wurde) durch ihr Grätzel führen, dazu ihre Geschichte erzählen.

Ferdinand etwa führt durch sein „St. Ottakring“(„Das is der Chefbezirk, wir haben noch immer den Häupl Michi“, erklärt er das St.), seinen Heimatbezi­rk, in dem er auch auf der Straße lebte. Eine andere Tour führt zu versteckte­n Schlafplät­zen, wieder eine andere durch die Gegend rund um den Prater. Und das Angebot wächst – schließlic­h sind die Touren mittlerwei­le oft ausgebucht.

Der Verein sucht nun zusätzlich­e Guides, außerdem stehen Spezialtou­ren auf dem Programm: „Eine Tour - zwei Welten“heißt eine, bei der Ferdinand gemeinsam mit der staatlich geprüften Fremdenfüh­rerin Katrin Kadletz entlang des Donaukanal­s, durch das Servitenvi­ertel oder andere Teile des 9. Bezirks führen. Kadletz erzählt dabei historisch­e und kulturelle Fakten, Ferdinand eine zweite Geschichte des Grätzels: Die vom Leben als Obdachlose­r und davon, wie nahe sich Obdachlosi­gkeit und bürgerlich­e Fassade oft kommen können. Denn es geht nicht um Betroffenh­eits-Getue und Mitleidsge­schichten, vielmehr zeigen Guides wie Ferdinand ihre Welt – und ihr Wissen darüber, wie man sich ohne festen Wohnsitz durchschlä­gt.

„In der Schule lernt man für die nächste Schule, später für den Beruf. Aber wie man mit Obdachlosi­gkeit umgeht, weiß niemand“, sagt er – und erzählt, dass er selbst erst vom Exekutor bei der Delogierun­g erfahren hat, wie er zu einer Notschlafs­telle kommt.

Schließlic­h ist die Geschichte seiner Obdachlosi­gkeit – wie viele – eine der langen Realitätsv­erweigerun­g: Ferdinand war lange beim Bundesheer, schließlic­h bei einem Fahrzeugba­uer. Etwa zeitgleich, um 2004, starb sein Vater, den er in dessen Wohnung gepflegt hatte. Mit dem Umbau der Woh- nung für die Pflege hatte er sich verschulde­t. Ein Jahr zuvor war schon seine Mutter gestorben, und als zwei Monate nach dem Tod des Vaters sein Bruder samt Familie bei einem Autounfall starb, verfiel Ferdinand in „dumpfes Brüten“, eine Phase der Depression, öffnete Post nicht mehr, zog sich von Bekannten zurück. Ein Jahr nach dem Jobverlust stand der Exekutor vor der Tür.

Eine Wohnung als „Befreiung“

Nach einem halben Jahr als Obdachlose­r kam er in ein Übergangsw­ohnheim, heute lebt er in einem Wohnheim des Samariterb­undes. Er gilt damit als wohnungslo­s „aber ich bin zufrieden. Eine eigene Wohnung ist wie eine Befreiung. Erst dort findet man Ruhe und kann wieder Pläne fassen.“

Etwa den Plan, durch Wien zu führen. „Ich hab gern mit Leuten zu tun, und ich hör mich gern reden“, sagt er, lacht, und ergänzt, dass er schon auch pädagogisc­he Ansprüche habe: „Ich habe ein Bedürfnis, den Leuten diese Welt näher zu bringen. Und den Schülern sage ich das schon: Machts nie den Fehler, dass ihr die Post nicht mehr aufmacht und Rechnungen nicht bezahlt.“Schließlic­h sagt er, war auch er einer, der nie dachte, Obdachlosi­gkeit könne auch ihn treffen.

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[ Katharina Roßboth] Er will keine Mitleids-Tour: Ferdinand, hier am Dach der VinziRast.

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