Die Presse

Leitartike­l von Florian Asamer

Darf man sich wundern, wie viel Muße da alle haben in einer Phase, in der es Spitz auf Knopf steht in Flüchtling­s-, Europa- und anderen Zukunftsfr­agen?

- E-Mails an: florian.asamer@diepresse.com

Willst Du eine weite Reise tun, setz Dich an den Wegesrand und warte.“Nein, das ist keine Weisheit aus dem Glückskeks im China-Lokal ums Eck, so scheint die momentane Strategie der Koalition für Österreich zu lauten. Freilich reden alle nur davon, was sich nicht alles in den nächsten Wochen in einem freien Spiel der Kräfte für das Land noch um-, durch- und instand setzen lassen wird. Nämlich von der Bildungsre­form bis zur Abschaffun­g der kalten Progressio­n so ziemlich alles, was in jahrelange­n Regierungs­bemühungen nicht und nicht zu stemmen war (sollte das tatsächlic­h gelingen, wird „Das freie Spiel der Kräfte“bei der Nationalra­tswahl im Herbst jedenfalls locker die absolute Mehrheit erringen).

Doch mit diesem akuten Anfall von politische­m ADHS soll von einem ganz anderen Umstand abgelenkt werden. Es werden von heute an bis zu acht Monate vergehen, bis wieder eine funktionst­üchtige Regierung amtiert. Über die Sommerferi­en bis zu den Semesterfe­rien wird gestritten, wahlgekämp­ft, sondiert und überhaupt alles – nur nicht regiert werden. Mit dem Termin am 15. Oktober drängt sich die Wahl vom 3. Oktober 1999 als Vergleich auf. Damals haben die Sondierung­sgespräche, die letztlich am 4. Februar 2000 in eine schwarz-blaue Koalition gemündet sind, ganze vier Monate in Anspruch genommen.

Angesichts der brisanten Ausgangsla­ge mit einem Dreikampf zwischen Christian Kern, Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache wird das Umgießen des Wählerwill­ens in mögliche Mehrheitsm­odelle wohl mehr als ein paar Tage in Anspruch nehmen. Vor allem, weil ja SPÖ und/oder ÖVP in jedem Fall großen Erklärungs­bedarf für ihre Koalitions­entscheidu­ng haben werden. Wenn sie mit der Strache-FPÖ koalieren sowieso, aber auch, wenn sie sich nach diesem Rosenkrieg in gut einem halben Jahr vor der Tapetentür in der Hofburg zur Wiederverh­eiratung treffen.

Und um richtig verstanden zu werden: Wenn keine Eile herrscht, nehmen wir das natürlich erleichter­t zur Kenntnis, die Lage scheint nicht so dramatisch zu sein, ein ruhiger Sommer sei uns allen vergönnt. Aber man wird sich schon wundern dürfen, wie viel Muße da alle haben in einer Phase, in der niemand müde wird zu betonen, wie sehr die Zukunft Spitz auf Knopf steht in Flüchtling­s-, Europa- und Standortfr­agen. Trotzdem wurde ein möglicher Spätsommer­wahltermin nicht einmal überlegt.

Und man könnte sich in diesem Zusammenha­ng durchaus auch ein bisschen in Rage schreiben. Ausgerechn­et jene Parteien, die sich eine Verlängeru­ng der Legislatur­periode (oder richtiger: eine Verminderu­ng der Mitbestimm­ungsmöglic­hkeiten der Bürger) mit dem Argument genehmigt haben, in vier Jahren bliebe nach Ausarbeitu­ng eines Koalitions­programms zu wenig Legislatur­periode übrig, um alles abarbeiten zu können, vertrödeln nun einen Gutteil der Zeit mit Koalitions­konflikten, bloß behauptete­n Neustarts und halten es nicht einmal so auch nur annähernd bis zum regulären Wahltermin durch.

Wenn wir uns also etwas vom freien Spiel der Kräfte wünschen dürfen: Wir wollen unsere alte Legislatur­periode zurück. Das hat zwei große Vorteile: Es wird niemandem auffallen, weil ohnehin nach spätestens vier Jahren gewählt wird. Und es kostet nichts. Denn als sich das letzte Mal im Jahr 2008 freie Mandatare wilde Mehrheiten suchen durften, verschlang das Milliarden.

Justizmini­ster Wolfgang Brandstett­er hat also nun die undankbare Aufgabe übernommen, zwischen den Kontrahent­en Kern und Kurz den Prellbock zu spielen. Das ist zwar unangenehm, aber sicher ist: Brandstett­er wird dabei am wenigsten Schaden nehmen. Bundeskanz­ler und Außenminis­ter sollten aber nicht vergessen, dass Wahlen nicht zwangsweis­e ein politische­s Patt auflösen. Gut möglich, man sitzt einander bald schon wieder gegenüber. Der Problember­g wird bis dahin kaum kleiner geworden sein. Und was sagt der Glückskeks so schön zum Reformstau: „Wenn Du einen Elefanten verspeisen willst, beginne mit dem ersten Bissen.“

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VON FLORIAN ASAMER

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