Die Presse

Wenn es mit dem freien Spiel der Kräfte ernst wird

Lexikon. Rund um die Regierungs­krise fallen immer wieder dieselben Begriffe. Doch was würde sich im politische­n Alltag ändern, wenn kein Koalitions­zwang mehr herrscht oder vielleicht sogar eine Minderheit­sregierung gebildet wird? Und wozu braucht man eine

- VON PHILIPP AICHINGER

Wien. Freies Spiel der Kräfte, Minderheit­sregierung oder Regierungs­beschluss: Es sind Ausdrücke wie diese, die die politische Diskussion in diesen Tagen prägen. Doch was steckt eigentlich hinter diesen Ausdrücken und warum ist das Feilschen um den Vizekanzle­rposten wichtig? Und wozu braucht man überhaupt einen Vizekanzle­r? Ein kleines „Presse“-Lexikon zu den aktuellen Themen.

Frei·es Spiel der Kräf·te [vom Bundeskanz­ler angekündig­t] Da es mit der Koalition nicht mehr zum Besten steht, wird für die verbleiben­den Monate bis zur Wahl ein freies Spiel der Kräfte erwartet. Das heißt im Grunde nichts anderes, als dass jede Partei versuchen muss, Partner für einen Mehrheits- beschluss im Parlament zu finden. Das ist zwar in der Theorie immer so. So lange aber eine Koalition besteht, ist es üblich, dass die beiden Regierungs­parteien alles gemeinsam beschließe­n. Zunächst beim Ministerra­t ( Regierungs­beschluss) und später nicken es die Abgeordnet­en der Koalition im Parlament dann ab. Gesetzesin­itiativen aus der Opposition sind in diesem System von Vornherein ohne Chance. Bei einem freien Spiel der Kräfte hingegen kann nun eine der beiden Regierungs­parteien auch mit den Opposition­sfraktione­n Gesetze paktieren.

Min·der·heits·re·gie·rung [im Gespräch, kommt vorerst nicht] Zuerst wollte die SPÖ nur ÖVPChef Sebastian Kurz als Vizekanzle­r akzeptiere­n. Schlussend­lich akzeptiert­e sie doch Wolfgang Brandstett­er in dieser Position. Damit ist ein Szenario ohne ÖVP in der Regierung vom Tisch. Denn Kanzler Kern könnte grundsätzl­ich auch eine Regierung bilden, der nur Vertreter seiner Partei oder auch unabhängig­e Experten angehören. Das wäre dann eine Minderheit­sregierung, weil sie keine Mehrheit im Nationalra­t hätte. Jeder einzelne Minister, aber auch der Kanzler oder die gesamte Regierung könnte dann per Misstrauen­santrag abgesetzt werden. Dazu bedarf es im Nationalra­t nur eines Mehrheitsb­eschlusses. Um das zu verhindern, müsste die Regierungs­partei Deals mit den einzelnen Fraktionen abschließe­n ( freies Spiel der Kräfte).

Re·gie·rungs·be·schluss [verliert an Bedeutung] Kern hatte Kurz damit gedroht, dass es keine Regierungs­beschlüsse mehr geben werde, wenn er nicht als Vizekanzle­r fungieren will. Fraglich ist, ob diese Drohung nun nach dem Ja zu Brandstett­er in die Tat umgesetzt wird oder ob nicht doch einzelne Regierungs­vorhaben noch im Ministerra­t beschlosse­n werden.

Auch ohne Regierungs­vorlagen kann man aber weiterhin Gesetze im Nationalra­t verabschie­den. Fünf Abgeordnet­e reichen etwa, um einen Initiativa­ntrag für ein Gesetz zu stellen, das dann eine Mehrheit finden muss ( freies Spiel der Kräfte).

Vi·ze·kanz·ler [vertritt den Bundeskanz­ler] Für Wolfgang Brandstett­er ist es vor allem eine Ehre, ein paar Monate das Vizekanzle­ramt ausfüllen zu dürfen. Das Sagen in der ÖVP wird freilich trotzdem Sebastian Kurz haben. Rechtlich betrachtet ist der Vizekanzle­r vor allem dann wichtig, wenn der Bundeskanz­ler gerade nicht zugegen sein kann. „Der Vizekanzle­r ist zur Vertretung des Bundeskanz­lers in dessen gesamtem Wirkungsbe­reich berufen“, heißt es im Bundes-Verfassung­sgesetz (B-VG). Sind übrigens einmal Bundeskanz­ler und Vizekanzle­r gleichzeit­ig verhindert, so wird der Bundeskanz­ler durch das dienstälte­ste Mitglied der Bundesregi­erung vertreten. Das wäre Sozialmini­ster Alois Stöger. Bei gleichem Dienstalte­r von Ministern würde das an Jahren älteste die Kanzlerfun­ktionen übernommen.

Ernannt wird der Vizekanzle­r auf Vorschlag des Bundeskanz­lers vom Bundespräs­identen. Ohne Zustimmung von Kern dürfte Brandstett­er daher nicht Vizekanzle­r werden.

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