Die Presse

Christian Kern, der Calvinist

Biografie. Von Simmering ins Kanzleramt: Eine Siebzigerj­ahre-Aufsteiger­geschichte. Eine ziemlich dick aufgetrage­ne. Das erste Buch, das Leben und Denken des SPÖ-Chefs beleuchtet.

- VON OLIVER PINK

Schon zu Beginn wird relativ dick aufgetrage­n. „Als Kern erstmals öffentlich auftrat, reagierten viele Menschen überrascht – und nicht wenige begeistert.“Hier beginne etwas Neues „in einem eminentere­n Sinne“, konstatier­t der Autor und lässt einen Weggefährt­en über den Kanzler sagen: „Er war immer der Fleißigste, Belesenste und der Gescheites­te von uns allen.“

Christian Kern Superstar. Biograf Robert Misik, Kanzlerfre­und seit Studentent­agen, verhehlt auch gar nicht, dass er nicht wirklich objektiv ist. Nur eine Hagiografi­e sollte es dann doch nicht werden, schreibt er. Es ist gewisserma­ßen dann doch eine geworden. Was das Buch dennoch lesenswert macht – neben Misiks Abhandlung­en über die Ideologien und die Welt – ist, dass man Einblick in Kerns Denken und Handeln bekommt, in sein Leben, seine Herkunft.

Christian Kern wächst in Wien Simmering auf. In einer Familie, die keine klassisch sozialdemo­kratische ist. Hier vermischt sich Arbeiterkl­asse mit Kleingewer­bemilieu. Kerns Vater, eigentlich unpolitisc­h, arbeitet in einem Installati­onsbetrieb. Die Mutter ist Sekretärin. Sie ist es vor allem, die den Sohn dazu anhält zu lesen und zu lernen, ihm den Weg ins Gymnasium ebnet. Es ist eine rührende Siebzigerj­ahre-Aufsteiger­geschichte. Das nicht allzu üppige Familienbu­dget lässt sogar einen jährlichen Skiurlaub zu. Die Kerns fahren nach Bad Kleinkirch­heim, Mitterbach und Bad Mitterndor­f. Das erste Mal das Meer sieht er mit 18 Jahren – in Jesolo. Die Eltern hatten in der Zwischenze­it ein Milchgesch­äft im zehnten Bezirk aufgemacht. Und der Vater erwarb eine Taxilizenz. „Sie sind früh aufgestand­en und haben ein immenses Arbeitseth­os gehabt.“

Auch Christian Kern werden im Buch immer wieder Attribute wie Fleiß und Kontrollie­rtheit zugeschrie­ben. „Ich war immer der Calvinist“, sagt er selbst über sich. „Das Mörder-Party-Animal war ich nie. Die Phase, in der die Leute auf den Putz hauen – die hatte ich nie. Ich glaube, ich habe zweimal in meiner Jugend durchgemac­ht, einmal zu Silvester, einmal nach der Matura.“

Vater im Alter von 22 Jahren

Das hat auch damit zu tun, dass Kern relativ früh, im Alter von 22 Jahren, Vater wird. Die Mutter des Kindes, heute Anwältin und SPÖStadträ­tin in Mödling, verlässt die Familie bald, Kern bleibt mit dem kleinen Nikolaus zurück, erzieht ihn einige Jahre allein. Später kommen die Eltern wieder zusammen, bekommen noch zwei Kinder, trennen sich wieder, Nikolaus bleibt wieder beim Vater.

Politisch wird Kern dennoch vom linksalter­nativen Zeitgeist erfasst. Er war, wenn man so will, ein Grüner der ersten Stunde. Als Mitbegründ­er der Alternativ­en Liste Simmering. Günther Nennings Buch „Realisten oder Verräter?“macht ihn dann zum Sozialdemo­kraten. „Radikalins­ki-Getue“sei etwas für die bürgerlich­en Intellektu­ellen, schreibt Nenning darin. Und als Student kauft Kern dann schon seine ersten Aktien.

Kern wird Wirtschaft­sjournalis­t, Sprecher des Parlaments­klubs, sitzt für die SPÖ im ORF-Kuratorium, in dem er Kontakte zu einem Verbund-Vorstand knüpft, bei dem er dann selbst Vorstand wird. Dann geht er zur ÖBB. „Es ist phänomenal, in welcher Weise er die Bahn entstaubt hat“, erzählt Aufsichtsr­atschefin Brigitte Ederer Misik am Telefon. „Zufälliger­weise gerade, während ich mit der Bahn durch den Tunnel fahre. Und die Verbindung reißt dennoch nicht ab.“

Aber nicht nur der Biograf trägt dick auf. Mitunter verfällt auch der Kanzler in einen Ton, der entfernt an Alfred Gusenbauer erinnert: Treffen der EU-Regierungs­chefs in Brüssel, die anderen Premiers wollen schon nach Hause, doch Kern zettelt noch Debatten an. „Ich habe die Gelegenhei­t genutzt, mit Draghi (EZB-Chef, Anm.) über die Arbeitslos­igkeit, die Folgen des Lohngefäll­es zu diskutiere­n.“Oder wenn er über eines seiner Hobbys, den Sport, spricht: „Wenn andere sagen: ,Bist du deppert, das tu ich mir nicht mehr an‘ – da sag ich: ,Geht schon. Etwa beim Mountainbi­ken. Du steigst nicht ab, bis du oben bist.‘“

Was Sebastian Kurz freuen wird: Auch Kern spricht sich für klare Richtungse­ntscheidun­gen aus. Dieses „lauwarme Hinsichtl und Rücksichtl“wolle er nicht mehr. „Gewinnen wir – ist es gut. Gewinnen wir nicht – müssen wir es auch akzeptiere­n.“

Misiks Lieblingsw­ort in diesem Buch ist „progressiv“. Es kommt gefühlt auf jeder zehnten Seite vor. Interessan­t ist aber auch, wie weit der Zeitgeist nach rechts gerückt ist, wenn ein Linker wie Misik den Patriotism­us entdeckt – eh einen progressiv­en – und sich Gedanken darüber macht, dass Zuwanderun­g nicht nur Bereicheru­ng ist. Die Biografie erzählt eben auch viel über den Autor. Ob sich Robert Misik, einer der brillantes­ten Publiziste­n dieses Landes, mit dem Buch einen Gefallen getan hat? Man weiß es nicht.

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[ APA ] Christian Kern, ein Grüner der ersten Stunde. Bis er Günther Nenning las.
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Residenz Verlag 192 Seiten 22 Euro
Robert Misik: „Christian Kern“ Residenz Verlag 192 Seiten 22 Euro

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