Die Presse

Ohne Begehren kein Sehen

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Objekte so zu sehen, als hätte man sie noch nie gesehen, bedeutet, Unsichtbar­es wahrzunehm­en“, schrieb Fodor vor zehn Jahren zu seinem ersten Bildband, „nooshpere“. Mit dem programmat­ischen Titel bezeichnet er den „geistigen Orbit“, eine utopische Sphäre des menschlich­en Denkens, in der sich ein fremder Blick auf vermeintli­ch Vertrautes eröffnet. Das Buch war die erste Manifestat­ion der Gedankenwe­lt, aus der sich die künstleris­che Arbeit des gebürtigen Ungarn speist. Dass sein Instrument die Kamera ist, hatte er schon als Kind begriffen.

Ein altes Schwarz-Weiß-Foto mit gezacktem Rand zeigt einen groß gewachsene­n, soignierte­n älteren Herrn im dreiteilig­en Anzug, mit Stock und Hut. Freundlich neigt er sich seinem kleinen Enkelsohn zu, der ihn hier aus seiner Froschpers­pektive abgelichte­t hat. Das Bild eines Gentlemans alter Schule, das nichts von der bewegten Geschichte dieses Mannes verrät. Dieser Großvater war nämlich ein „verfluchte­r Kerl“, Frauenfreu­nd und Verfechter kommunisti­scher Ideale. Ursprüngli­ch Bergwerksa­rbeiter im Städtchen Dorog, westlich von Budapest, avancierte er unter den Kumpeln bald zum Führer einer Gewerkscha­ftsbewegun­g, die mit Streiks um ihre Rechte kämpfte. Vor den politische­n Repressali­en, die ihn mit schöner Regelmäßig­keit ins Gefängnis brachten, floh er schließlic­h nach Holland, wurde von dort wegen Agitation aber wieder ausgewiese­n – per persönlich­em Brief der Königin. Zurück in Ungarn, bekam er nach 1945 dank seiner Gesinnung einen Ministerpo­sten. Dieser Jean Fodor schenkte seinem Enkel Gyula eine aus Holland mitgebrach­te Kamera aus den 1920er-Jahren, und der Siebenjähr­ige entdeckte ein Gefühl, das ihn in allen Wechselfäl­len seines Lebens nicht mehr losgelasse­n hat. „Dieses Begehren, Bilder zu machen, hat mich fasziniert. Seit damals weiß ich, dass ich Künstler sein will.“

Der Bub malt Aquarelle, zeichnet Comics und fotografie­rt: die Katze, die staubige, verlassene Straße, die Störche auf dem Dach, und was sich seinem Blick in häuslicher Umgebung sonst noch bietet. Aber nach wenigen Jahren ist es mit dem Fotografie­ren vorbei. Der Vater bringt die Familie als Schmied und Schlosser nur mit Mühe durch. Eine der modernen Kleinbildk­ameras, die nun in Gebrauch kommen, hätte einen Monatslohn verschlung­en.

Das Verhältnis zum Vater wurde im Lauf der Pubertät problemati­sch. Als er eines Tages im Streit Gyulas selbst gebaute Bassgitarr­e zertrümmer­te, verließ der 16-Jährige sein Elternhaus und zog auf eigene Faust nach Esztergom. Am dortigen Gymnasium fand er eine Vaterfigur, an der er sich orientiere­n konnte. „Mein Klassenvor­stand, Ivan´ Dev´enyi,´ war damals der größte Kunstsamml­er in Ungarn, hatte Kontakt mit Leuten wie Picasso. Er hat mich gefördert, da habe ich endlich Tritt fassen können.“Und Gyula war bald reif, in die Fußstapfen seines Großvaters zu treten.

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