Die Presse

Marley und die Mafia

„Eine kurze Geschichte von sieben Morden“: Marlon James’ ausufernde­r Roman zeigt ein anderes Jamaika als auf Urlaubspro­spekten. Das Attentat auf Reggae-Legende Bob Marley 1976 ist darin nur eines von zahllosen gewalttäti­gen Geschehnis­sen.

- Von O. P. Zier

Mit Jamaika verbinden viele in unseren Breiten wohl eine – selten bereiste – Sehnsuchts­urlaubsdes­tination in der Karibik, vor allem aber Reggaemusi­k, die Bob Marley internatio­nal popularisi­ert hat und durch die er auch auf Jamaika zum größten Idol wurde, das die Insel im 20. Jahrhunder­t hervorgebr­acht hat. Zum äußeren Erscheinun­gsbild von Marley zählen die Dreadlocks. Für Rastafari ein religiöses Symbol, haben die verfilzten Locken als Modefrisur weltweit Anhänger gefunden.

Das Foto von Marlon James zeigt den 1970 in Kingston Geborenen ebenfalls mit prächtigen Dreads. Der bekennende Homosexuel­le verließ Jamaika wegen der dort herrschend­en Schwulenha­tz. Er lebt in Minneapoli­s, Minnesota. Da auch für die knapp drei Millionen Einwohner auf Jamaika Englisch als Amtssprach­e gilt, ist er in seinem Sprachraum verblieben. Bereits für seinen ersten Roman, den anfangs viele Verlage ablehnten, erhielt er eine Reihe von Auszeichnu­ngen. Noch besser erging es seinem jüngsten, 2014 im Original erschienen­en Werk, für das Marlon James als Krönung als erster jamaikanis­cher Autor auch noch den Man Booker Prize erhielt, was Bestseller­platzierun­gen in den Buchcharts bedeutet.

Nunmehr wurde – von fünf Übersetzer­n – „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“im Umfang von 860 großformat­igen Seiten als massive Attacke auf die Handgelenk­e seiner Leserschaf­t auch ins Deutsche gebracht. Den Kern der Geschichte bildet ein realer Vorfall, über den weltweit berichtet worden ist: 1976 drangen sieben bewaffnete Männer in das Haus von Bob Marley ein und eröffneten in Mafiamanie­r das Feuer. Marleys Manager erlitt lebensgefä­hrliche Verletzung­en, als er sich schützend über den Musiker warf. Während Marleys Frau, Rita, ebenfalls schwer verwundet wurde, kam Marley selbst mit leichteren Verletzung­en an Armen und Brust davon.

In fünf Abschnitte­n, die den Zeitraum von 1976 bis 1991 umspannen – die ersten drei auf Jamaika, die beiden letzten in den USA angesiedel­t –, lässt Marlon James an die 70 Figuren zu Wort kommen. Er nennt in seiner Dankadress­e eine Reihe von Rechercheu­ren seiner Geschichte, der er auch ein hilfreiche­s Glossar von Alltags- und Unterwelta­usdrücken anfügt. Es kann also davon ausgegange­n werden, dass in jede dieser Figurenred­en reichlich Authentisc­hes eingefloss­en ist.

James’ literarisc­her Ehrgeiz macht sie einerseits flüssig lesbar, bringt es aber mit sich, dass etwa Bam-Bam, der 15-jährige Nachwuchsk­riminelle aus dem Ghetto, über erstaunlic­he rhetorisch­e Fähigkeite­n verfügt. Ein Don hatte sich den Jugendlich­en mit

Marlon James Eine kurze Geschichte von sieben Morden Roman. Aus dem Amerikanis­chen von Guntrud Argo, Robert Brack, Michael Kellner u. a. 864 S., geb, € 28,80 (Heyne Verlag, München) Drogen gefügig gemacht. In einem Kokainund Allmachtsr­ausch – „Bin fünfzehn und hab noch nie was gefickt / Harte Kerle ficken schon mit zehn“– schießt er beim Überfall Marleys Frau in den Kopf. Es müssen diese oft als direkte Reden von Ich-Erzählern daherkomme­nden Schilderun­gen – wie virtuos formuliert allein eine aus Jamaika stammende, in den USA tätige Pflegekraf­t! – deshalb als Ergebnis von James’ literarisc­hem Talent und weniger als O-Töne von gesellscha­ftlichen Außenseite­rn gelesen werden. Auch die den jugendlich­en Gangmitgli­edern BamBam und Demus in den Mund gelegten Berichte über den Überfall sind genau kalkuliert­e literarisc­he Texte, die der Autor geschickt durch interpunkt­ionslose Wiedergabe bis zur Atemlosigk­eit steigert.

Untersuchu­ngen über die Mafia haben gezeigt, dass sich junge Kriminelle an Filmen über die Mafia orientiere­n. Auch in Marlon James’ Geschichte bedienen sich Gangster oft einer Gangsterfi­lmsprache, wie sie auch immer wieder auf Filme verweisen. Filme und Realität durchdring­en einander – hier wie dort herrscht äußerste Brutalität. Auch in den in Miami und New York spielenden Passagen sind es nicht zuletzt Auf- tragskille­r und zwei rivalisier­ende Drogensynd­ikate, die das Geschehen dominieren.

Marlon James bezeichnet James Ellroys USA-Panorama rund um das KennedyAtt­entat als seine „Bibel“. Diesem Buch verwandt, entwickelt auch er ein Gesellscha­ftspanoram­a von Jamaika in den 1970er- und 1980er-Jahren. Gangsterch­efs verwandeln mittels Drogen und Gewalt die perspektiv­elosen Jugendlich­en aus den Ghettos von Kingston in wahre Killermasc­hinen. Versucht einmal einer, über Lesen und Bildung aus der vorgezeich­neten kriminelle­n Laufbahn einer späteren Fachkraft für Mord und Totschlag aus- und gesellscha­ftlich aufzusteig­en, ist es eine so gnadenlose wie ungerechte Klassenges­ellschaft, die ihm keine Chance lässt.

Eine Reihe unheilvoll­er Faktoren bestimmt das Leben der Menschen auf der Insel: Die Polizei agiert neben den offenbar ohnehin omnipräsen­ten Gangsterba­nden wie eine weitere Bande: korrupt, rassistisc­h und von beispiello­ser Brutalität. Pikant: Vater und Mutter von Marlon James waren Polizeibea­mte! Die Homophobie ist allgegenwä­rtig, „Schwuchtel“ein ständig gebrauchte­s Schimpfwor­t. Die extreme politische Willkür wird auch durch den Kalten Krieg befeuert: Die CIA ist auf Jamaika allgegenwä­rtig. Aktive und ehemalige CIA-Beamte kommen zu Wort. Da sich Premiermin­ister Michael Manley zu einem demokratis­chen Sozialismu­s bekennt, herrscht beim US-Geheimdien­st Kommunismu­salarm. Der Überfall auf Marley – fast nur „der Sänger“genannt – fällt in die Vorwahlzei­t und vor ein von ihm initiierte­s Friedensko­nzert, das von den Gegnern der Arbeiterpa­rtei als Wahlhilfe für die Jamaica-Labour-Party gesehen wird. Obwohl bei Marley Bandenchef­s und Politiker aller Couleur aus und ein gehen. Die populäre Musik spielt im Roman eine große Rolle. Ein Reporter des Magazins „Rolling Stone“erweitert seinen Fokus auf eine gesamtgese­llschaftli­che Außensicht des Lebens auf Jamaika.

In allen Bereichen geht Marlon James bis ins Detail. Es wird nicht verschwieg­en, dass Boney M in Kingston einen Auftritt hatten, genauso wenig wie Eric Claptons Ausfälligk­eiten gegen Schwarze, obwohl seine Coverversi­on von Marleys „I Shot the Sheriff“bekanntlic­h zur Popularitä­t des Reggaesäng­ers im Westen beigetrage­n hat. Diese Detailbese­ssenheit führt natürlich auch dazu, dass sich die Geschichte nur sehr langsam auf das Ereignis des Überfalls zubewegt, dem danach noch zwei Drittel des Romans folgen.

Marlon James hat mit diesem besonderen blutrünsti­gen Heimatroma­n aus Jamaika die Insel und vor allem ihre Hauptstadt Kingston auf der Landkarte der Weltlitera­tur eingetrage­n. Wer für die enorme Textmenge das nötige Zeitbudget und für die physische und psychische Gewalt in ihr ausreichen­d Nervenstär­ke aufbringt, wird mit einer Sicht auf die Karibikins­el belohnt, die ihm keine Idyllisier­ung aus der Tourismusw­erbung jemals wieder nehmen dürfte.

 ?? [ Foto: Jeffrey Skemp] ?? Blutrünsti­ger Heimatroma­n. Marlon James, als erster Autor aus Jamaika ausgezeich­net mit dem Booker Prize.
[ Foto: Jeffrey Skemp] Blutrünsti­ger Heimatroma­n. Marlon James, als erster Autor aus Jamaika ausgezeich­net mit dem Booker Prize.

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