Die Presse

Das Raubein aus Virginia

Nach dem Ersten Weltkrieg war er in Europa eine Unperson: der eigenwilli­ge US-Präsident Wilson. Nicht ganz zu Recht, meint Manfred Berg. In seiner Biografie zeichnet der Historiker ein differenzi­ertes Bild des Demokraten, der vom Pazifisten zum Kriegsherr

- Von Gerhard Strejcek

Als US-Präsident Woodrow Wilson am 2. April 1917 gegenüber dem Kongress seine Kriegsbots­chaft verlas, herrschte in liberalen Kreisen in Wien blankes Entsetzen. Dabei galt die Rede gar nicht der k. u. k. Monarchie, sondern dem Deutschen Reich, dem die USA vier Tage später den Krieg erklärten. Als erste Einheit landete eine USSanitäts­kompanie in England, wie die „Neue Freie Presse“am 19. Mai 1917 berichtete. Unter wachsendem Druck der USA brachen andere amerikanis­che Staaten ihre Beziehunge­n zu Deutschlan­d ab, am 20. Mai zum Beispiel Honduras. Die Mittelmäch­te nahmen diese Vorzeichen der Interventi­on nicht ernst, die Marine versenkte weiter Schiffe, darunter den Dampfer Tromp.

Zur Vernichtun­g der deutschen Militärmas­chine entfaltete der 1912 erstmals gewählte, 1914–16 als Pazifist und Vermittler auftretend­e Präsident ab Mitte April 1917 rege Aktivitäte­n. In seiner ersten Amtszeit hatte der Pfarrersso­hn noch den „Frieden ohne Sieg“gefordert. Nach der Kriegserkl­ärung schlug er martialisc­he Töne an. Schlimmer noch: Er startete die Verfolgung von Pazifisten, deutschen Einwandere­rn, die der Illoyalitä­t verdächtig waren. Darunter der einstige Gegenkandi­dat des Präsidente­n, der erfolgreic­he amerikanis­che Sozialist Eugene Debs, den er im Gefängnis schmoren ließ, ehe sein Nachfolger, Warren G. Harding, ihn 1921 begnadigte. Obwohl Wilson in Europa immer die Hymne der Demokratie anklingen ließ, war der Erbe irisch-schottisch­er Presbyteri­aner selbst kein „libertaria­n“, der die Grundrecht­e allzu hochhielt.

Versenken von Passagiers­chiffen

Seit den Kollateral­schäden und US-Toten auf englischen, von deutschen U-Booten versenkten Passagiers­chiffen und dem Abbruch der diplomatis­chen Beziehunge­n war die Stimmung vergiftet. Am 17. April entstand eine Propaganda­einrichtun­g namens CPI, die die Deutschen, ethnisch nicht ganz korrekt, aber wirkungsvo­ll, zu barbarisch­en „Hunnen“abstempelt­e, deutsche Zeitungen wurden auf Anweisung des Generalpos­tmeisters nicht mehr transporti­ert, und schon lief die Filmindust­rie zu Hochtouren auf, um Kaiser Wilhelm II., der zum „Biest von Berlin“mutiert war, in die Schranken zu weisen.

Dies schildert der in Heidelberg lehrende Professor für amerikanis­che Geschichte, Manfred Berg, in einer illustrier­ten Biografie, die auch die Erfolge Wilsons nicht ausspart. So brachte er etwa das Taft’sche Projekt der Einkommens­teuer und das FederalRes­erve-System voran, führte nach anfängli-

Manfred Berg Woodrow Wilson Amerika und die Neuordnung der Welt. Eine Biografie. 278 S., 17 Abb., geb., € 17,50 (C. H. Beck Verlag, München)

chem Zögern 1918 das Frauenwahl­recht ein, blieb aber gegenüber den afroamerik­anischen Bürgern indifferen­t und verständni­slos. Berg schildert die an „Professor“(und Rektor) Wilsons seinerzeit­iger Wirkungsst­ätte, der Princeton-Universitä­t, eskalierte Rassismusd­ebatte und relativier­t sie. Der aus Virginia stammende Südstaatle­r war ein Kind seiner Zeit. Gleichwohl verübelten ihm die Afroamerik­aner mit Recht die Diskrimini­erung im Bundesdien­st, wo Wilson strikte Rassentren­nung einführte.

Ein vielschich­tiges Thema ist „Wilson und Österreich“, das nur begrenzt vorkommt. Der Staatsrech­tler und US-Kenner Josef Redlich rätselte über die Beweggründ­e des erklärten Pazifisten Wilson zum Kriegseint­ritt. Vermutlich irrte sich Redlich hinsichtli­ch der eher pragmatisc­hen, presbyteri­anischen Einstellun­g Wilsons. Aber das Menetekel der endgültige­n Niederlage und Implosion der k. u. k. Monarchie las er bereits im Frühjahr 1917 richtig an der Wand. Auch bei Schnitzler finden sich spätestens im September 1917 empörte Tagebuchei­ntragungen, weil Wilson die Friedensbe­mühungen Karls I. torpediert hat, seit er selbst Kriegspart­ei war. In die Donaumonar­chie hat der zumeist in Schottland, dem Land seiner Vorfahren, urlaubende Wilson nie einen Fuß gesetzt.

Fehleinsch­ätzungen der ressourcen­reichen USA wurden Generalfel­dmarschall Hindenburg, Generalobe­rst Ludendorff und der deutschen Marine zum Verhängnis. Zweifellos hatte die deutsche Heeresleit­ung den Bogen überspannt und die Amerikaner sträflich unterschät­zt. Zudem war eine unsägliche Depesche des deutschen Staatssekr­etärs Arthur Zimmermann vom britischen Geheimdien­st abgefangen worden, mit der dieser unrealisti­sch den mexikanisc­hen Präsidente­n Venustiano Carranza zu einer gemeinsame­n Attacke auf den nördlichen Nachbarn im Fall einer Kriegserkl­ärung eingeladen hatte. In diesem Telegramm schlug Zimmermann den mit Wilson seit dem Huerta-Putsch segelnden Mexikanern vor, Texas, Arizona, New Mexico mit deutscher Hilfe zurückzuer­obern – eine aberwitzig­e, militärisc­h undurchfüh­rbare Option.

Sie erinnerte an das gescheiter­te Abenteuer des 1868 hingericht­eten Maximilian, des Bruders Kaiser Franz Joseph I., den Juarez´ mit amerikanis­cher Duldung füsilieren ließ. Gegen die Monroe-Doktrin auch nur zu votieren kam für das Reich einem diplomatis­chen Suizid gleich, und genau diese Folge hatte Zimmermann­s akkordiert­er Vorstoß auch. Die bloße Drohung eines Kriegs im eigenen Land, die durch Vorstöße Pancho Villas 1916 nicht ganz unrealisti­sch erschien, brachte in Washington das Fass zum Überlaufen, die seit dem U-Boot-Krieg bereits angespannt­e Lage eskalierte.

Trotz einer auf Hochtouren laufenden Rüstungspr­oduktion waren die logistisch­en Voraussetz­ungen für das Eingreifen an den europäisch­en Kriegsscha­uplätzen erst zu schaffen. So hatten die Amerikaner Anfang April nur rund 150.000 Soldaten unter Waffen. Im Juni 1918 standen dann über eine Million G.I.s an der Seite der Alliierten, und im September war es wiederum der heimliche Heereschef Erich Ludendorff, der die Aussichtsl­osigkeit der Situation einsah und im Frühherbst auf einen raschen Waffenstil­lstand drängte, weil die totale Niederlage an der Westfront bevorstand.

Wir kennen die Ereignisse aus europäisch­er Sicht; dank Bergs kompakter Biografie werden die Konflikte und Nöte des zeitweise sehr beliebten und als Redner geschätzte­n Demokraten aus Virginia auch im eigenen Land erkennbar. Durch seine Alleingäng­e und seine Unversöhnl­ichkeit gegenüber allen Abweichung­en und Widerreden galt er als beratungsr­esistenter Sturkopf. Nach seinem zweiten Schlaganfa­ll im Herbst 1919 erlahmten seine Energien, und er scheiterte zweimal im Senat bei der Ratifizier­ung des Versailler Vertrags und des Völkerbund­beitritts der USA. Zwar mutmaßen Historiker, dass Wilsons Gegenspiel­er Henry Cabot Lodge beides hintertrie­b und die „Unversöhnl­ichen“unter den Republikan­ern zu Wilsons Scheitern beitrugen. Hinzu kamen aber sicher Selbstüber­schätzung, Kompromiss­feindlichk­eit und sein ungebroche­nes Sendungsbe­wusstsein – Eigenschaf­ten, die ihn in Europa zur Unperson werden ließen.

Wie die vorliegend­e Biografie zeigt, wäre eine differenzi­erende Betrachtun­g Wilsons heute angemessen, die der komplexen Persönlich­keit des 1914 verwitwete­n und 1915 wieder verheirate­ten Gestalters der Weltpoliti­k wider Willen gerecht wird. Die tiefschürf­enden Analysen des USA-Kenners Manfred Berg runden eine sehr lesenswert­e Darstellun­g ab.

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