Die Presse

Das Erbe der Väter abstreifen

Ergreifend: Ivan Ivanji verknüpft fünf Generation­en einer Banater Familie im 20. Jahrhunder­t.

- Von Stefan May

Großbetsch­kerek, Nagybecske­rek, Petrovgrad, Zrenjanin. Eine Stadt, vier Namen. Rotbart, Radvanji, Radovan, Radvan. Eine Familie, vier Namen. Bewegte Zeiten haben die Gewalt, auch Namen zu verändern. Das Banat kennt eine wechselvol­le Geschichte. Der dort geborene Schriftste­ller Ivan Ivanji lässt seine Heimat und ihr Schicksal während eines Jahrhunder­ts in fünf Generation­en einer jüdischen Familie Fleisch werden – und damit konkret und berührend.

Samuel Rotbart, Gasthaus- und Gutsbesitz­er im kleinen Perlez, ist noch ein treuer Untertan der k. u. k. Monarchie. Sein Sohn Leopold, Tierarzt, ist überzeugte­r Ungar und lässt seinen Namen auf Radvanji ändern. Dessen Sohn Ferko muss im Ersten Weltkrieg als Fähnrich des Habsburger­reichs in Albanien kämpfen. Er arrangiert sich danach mit dem Leben im neuen Königreich. Im Zweiten Weltkrieg arbeitet er als Arzt für die Partisanen Titos. Sein Sohn Rudolf kämpft im Untergrund – doch beide wissen während der Kriegsjahr­e nichts voneinande­r.

Mit Rudolfs Sohn Goran versucht sich schließlic­h ein junger Mann, der die Welt schon früh kennengele­rnt hat, von den Ideologien und politische­n Zwängen seiner Vätergener­ationen zu emanzipier­en. Daher rührt auch der Buchtitel, „Schlussstr­ich“, der nichts mit der in unseren Breiten damit verbundene­n politische­n Bedeutung zu tun hat.

Oder doch? Es geht ja jeweils darum, ob man das Erbe der Väter abstreifen kann. Goran will zwar zuerst die Familienge­schichte aufarbeite­n, kommt dann aber zu dem Schluss, einen völligen Neubeginn zu machen. Doch wie sieht er aus? Ivanji lässt es offen, er skizziert einen zwar sympathisc­hen, aber von Weltanscha­uungen unbelastet­en Erfolgsmen­schen, der letztlich in seiner Persönlich­keit blass und weit weniger konturiert erscheint als seine männlichen Vorfahren.

Eingebette­t in Zeit und Sitten

Sie alle waren sehr wohlhabend, stets auch sozial und nie herablasse­nd. Ihr Judentum hatte keiner von ihnen gepflegt, sie lebten durch und durch profan. Die fünf Männer dieses 20. Jahrhunder­ts mit ihren Wurzeln im Banat schildert Ivan Ivanji auf eine sehr liebenswür­dige Art. Mitunter allzu liebenswür­dig, manchmal hätte ein Adjektiv weniger dazu beigetrage­n, die so angenehme Distanz des Chronisten für den Autor zu wahren.

Dennoch ist ihm ein beachtlich­es Werk gelungen: Er verknüpft meisterhaf­t Schicksale, lässt Beziehunge­n glücken und scheitern, große und kleine Tragödien geschehen, Eigenarten, Krankheite­n, berufliche Erfolge und private Misserfolg­e. Das macht Ivanjis Roman so unkonstrui­ert, so, als hätte er ein beliebiges Segment aus dem endlosen Schauspiel Leben geschnitte­n, um es wie einen Film vor unseren Augen abrollen zu lassen.

Dabei zeichnet er die fünf Männer mit ähnlichen Charakterz­ügen, Angewohnhe­iten und trotzdem durchaus unterschie­dlich, was ebenso Kunst wie realistisc­h ist. Ivanji begleitet diese liebenswer­ten Menschen durch die sich verändernd­e Gesellscha­ft, die Schrecken der Naziherrsc­haft, ohne dort schwerpunk­tmäßig zu verweilen, bis hin zum Zerfall Jugoslawie­ns, dessen grausame Transforma­tion er überrasche­nd nur mit einem Satz erwähnt. Gleichzeit­ig schaut er nicht in arrogant-westlicher Manier auf den Balkan als zurückgebl­ieben, sondern malt das warmherzig­e Bild einer gleichsam selbstvers­tändlich multikultu­rellen Welt, die von Generation zu Generation mehr verloren geht.

Ivan Ivanji Schlussstr­ich Roman. 332 S., geb., € 24 (Picus Verlag, Wien)

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