Die Presse

Der Untergrund federt mit

Baltikum. Wanderunge­n durch die Nationalpa­rks von Estland, Lettland und Litauen führen über Ebenen voll Moor und über Berge aus Sand.

- VON DIETLIND CASTOR

Raivo, Ranger im LahemaaNat­ionalpark, lädt komische Plastiktei­le aus seinem Kombi und verteilt sie an die wartenden Wanderer. Das sollen Moorschuhe sein? Sie sehen wie Schneeschu­he aus. „Früher gingen die Esten mit ähnlichen Schuhen Beeren pflücken, Heu machen oder die Nachbarn am anderen Ende des Moors besuchen“, erklärt Raivo. „Mit ihnen sinkt man nicht so schnell ein.“Vorsichtsh­alber bleibt er mit der Gruppe am Rand, denn trotz der Moorschuhe würden auf sehr sumpfigem Boden nur die Ersten hinter ihm durchkomme­n. „Für die Letzten kann ich nicht garantiere­n“, scherzt er. Ungewohnt ist es, auf so großen Füßen durchs Gelände zu gehen. Mancher stolpert, aber der Boden ist weich und federnd. Souverän schreitet die lettische Wanderführ­erin Aija über graue, gelbe und grüne Torfmoose voraus – sie wird die ganze Reise durchs Baltikum begleiten. Raivo drückt etwas Moos aus und demonstrie­rt, wie viel Wasser es enthält. Heißt es doch bei Droste-Hülshoff: „Unter jedem Tritte ein Quellchen springt . . .“Schaurig ist der Moormarsch aber nicht, den Rückweg durch den Kiefernwal­d nutzen viele, um Heidelbeer­en zu naschen.

Die Wanderung endet beim Herrenhaus Palmse, das sich bis 1923 im Besitz der deutschbal­tischen Familie von der Pahlen befunden hat. Das restaurier­te Herrenhaus ist heute der Sitz der Verwaltung des Lahemaa-Nationalpa­rks. Das Schutzgebi­et wurde 1971 als erster Nationalpa­rk im Baltikum gegründet, um die nordestnis­che Landschaft mit ihrem Ökosystem und ihrer Artenvielf­alt für künftige Generation­en zu erhalten. Einige vom Aussterben bedrohte Tiere wie Moorschnee­huhn, Schwarzsto­rch und Nerz haben hier Zuflucht gefunden, zumal es Totalreser­vate gibt, die nicht von Menschen betreten werden dürfen. Dadurch hat sich seit der Unabhängig­keitserklä­rung Estlands ein sanfter Tourismus entwickelt, in den die früheren Güter Palmse, Sagadi und Vihula als restaurier­te Gästehäuse­r einbezogen wurden.

Dörfervers­chlingende Dünen

Der meistbesuc­hte Nationalpa­rk ist die Kurische Nehrung, wegen seiner einzigarti­gen Dünen- und Küstenland­schaft Unesco-Weltkultur­erbe. Dieser 100 Kilometer lange Landstreif­en, von dem heute 52 Kilometer zu Litauen und der Rest zu Russland (Oblast Kaliningra­d) gehören, trennt das Haff mit seinem Süßwasser von der Ostsee. Vom idyllische­n Fischerdor­f Nida mit seinen blauen und rotbraunen Holzhäuser­n führt eine Treppe hinauf zur Hohen Düne, mit über 50 Metern eine der größten Euro- pas und mit Strandhafe­r und Heckenrose­n bewachsen. Durch frühere rigorose Abholzung waren auf der Nehrung Wanderdüne­n entstanden, die ganze Dörfer unter sich begraben haben. Es ist ein Genuss, durch den feinen weißen, windgeform­ten Sand zu wandern. Man glaubt sich in der Sahara, schrieb Literatur-Nobelpreis­träger Thomas Mann, der zum Haff hin ein hübsches Sommerhaus besaß. Zwischen Gräsern leuchtet purpurfarb­en Tausendgül­denkraut. Etwas weiter sind ganze Flächen mit den hellblauen Köpfen der Skabiose durchzogen. Hinter Heide und Kiefernwal­d liegt schließlic­h der breite Strand der Ostsee, in deren Wellen sich trotz 16 Grad etliche Badende tummeln.

Der größte Nationalpa­rk des Baltikums, Gauja, ist etwa 60 Kilometer von der lettischen Hauptstadt, Riga, entfernt. An seinem Rand liegt die kleine Stadt Sigulda, „das Herz der lettischen Schweiz“. In diesem hügeligen Gebiet fahre sie Ski, erzählt Aija und verweist auf die Bob- und Rodelbahn, auf der sogar Weltcupren­nen stattfinde­n. Vom bewaldeten, teilweise sumpfigem Ufer der träge fließenden Gauja, Lettlands längstem Fluss, sieht man zwar schon das Tagesziel. Doch bis zur Burg Turaida geht es noch lang bergauf durch naturbelas­sene Wälder. Erster Stopp ist die Schwertrit­terburg Sigulda, wo eine von der Republik Georgien spendierte Seilbahn die tiefe Schlucht (ein Urstromtal der Gauja) zum Schloss Krimulda überwindet. Nicht weit davon befindet sich die Gutmannshö­hle mit ihrer Quelle. Der Legende nach wurde das Wasser von einem „guten Mann“an Pilger als heilkräfti­g verteilt. Eine weitere Geschichte erzählt von der schönen Maja, die darin umgebracht wurde. Begraben ist die „Rose von Turaida“unter einer Linde im Gelände der mittelalte­rlichen Bischofsbu­rg Turaida, die nach zehn Kilometern Fußmarsch erreicht ist.

Nationalpa­rks schließen den Menschen nicht aus, auch wenn darin die Natur zum großen Teil sich selbst überlassen bleibt. So gilt die litauische Seenlandsc­haft um die sehenswert­e mittelalte­rliche Wasserburg von Trakai ebenfalls als schützensw­ert, was bei der Flut von Touristen und Erholungss­uchenden sicher nicht ganz einfach ist. Die Wasserburg und die nah gelegene Stadt Trakai gehören zum gleichnami­gen Nationalpa­rk.

Stille Hügel, ruhige Seen

Das größere Schutzgebi­et, der Aukstaitij­a-ˇNationalp­ark im Nordosten Litauens, ist dagegen fast menschenle­er. Vom Imkereimus­eum Stripeikia­i aus führt Aija durch uralte Kiefern- und Eichenwäld­er. Umgefallen­e Bäume bleiben einfach liegen. Die sanften Hügel wurden in der Eiszeit geformt. Die Luft ist klar und rein. Zwischen Laubbäumen blinzeln immer wieder Wasserfläc­hen hervor: an die 126 kristallkl­are Seen. Schon früh haben sich hier Siedler niedergela­ssen. Und ab und zu trifft man auf der zehn Kilometer langen Wanderung auf Holzhäuser, die im Sommer bewohnt sind. Von Wölfen, Luchsen und Elchen, die es auch geben soll, keine Spur.

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[ Anzelika Po, D. Castor Remo Savisaar/wwwmoment.ee] Waldgebiet­e prägen die Großlandsc­haft. Übers Moor tragen Moorschuhe – und die Kenntnis der Guides. Luchse, Bären und Wölfe leben in den Nationalpa­rks, aber begegnen einem kaum.
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