Die Psychologie der Attentäter
Ein Terrorist sprengte sich am Ende eines Popkonzerts, das viele Kinder und Jugendliche besuchten, in die Luft. Was treibt Massenmörder zu solchen Taten an? Vier Experten versuchen zu verstehen.
Wien/Manchester. Der junge Mann trug die selbstgebaute Bombe bei sich, als er am späten Dienstagabend in die Lobby der vollgepackten Manchester Arena trat. Die Stimmung war gut vor der Bühne. Ariana Grande sang gerade ihr letztes Lied, ihre Fans, fast alle junge Teenager, jubelten. Diese Kinder hatten sich wohl schon lange auf diesen speziellen Abend gefreut, auf dieses Konzert – mitten in der Woche, am Abend. Und viele waren ohne Eltern gekommen. Die warteten auf ihre Kleinen vor der Konzerthalle.
Ariana Grande beendete ihr Lied, die Konzertbesucher waren noch benommen von diesem Abend, sie waren ausgelassen, fröhlich. Aber dann, um 22.33 Uhr, knallte es. Menschen rannten schreiend Richtung Ausgang, Mädchen weinten. Verletzte lagen auf dem Boden. Später hieß es, die Bombe sei mit Metall, Schrauben und Nägeln gefüllt gewesen, um möglichst viel Schaden anzurichten. Mindestens 22 Menschen riss der Selbstmordattentäter mit in den Tod, ein Opfer war erst acht Jahre alt. Zum Blutbad bekannte sich der „Islamische Staat“: „Ein Soldat des Kalifats hat eine Bombe in einer Ansammlung von Kreuzfahrern platzieren können.“
Rache an der „heilen Welt“
Wie zuvor schon nach den Morden in Paris, Nizza, Brüssel, Berlin oder London stellt sich auch jetzt die Frage: Was geht in einer Person vor, die sich selbst umbringt, um möglichst viele Menschen zu töten – und in diesem Fall offenbar auch ganz gezielt Kinder ermorden will?
„Der Attentäter wollte die Gesellschaft dort treffen, wo sie besonders verletzbar ist, um ihr den höchstmöglichen Schmerz zufügen. Deshalb hat er vermutlich ganz bewusst Kinder und Jugendliche ins Visier genommen“, sagt der Gerichtspsychiater Reinhard Haller der „Presse“. Möglich sei, dass er sich an einer „heilen Welt rächen wollte, die ihn kalt behandelte und abgewiesen hat“.
Experten versuchen seit Jahren, ein Profiling des jihadistischen Selbstmörders zu erstellen. Und obwohl es schwer ist, Verallgemeinerungen aufzustellen, lassen sich offenbar doch einige Muster erkennen. So belegen Studien des auf islamistische Radikalisierung spezialisiertem „International Centre for the Study of Radicalisation“(ICSR) am King’s College in London, wie empfänglich Kleinkriminelle in Europa für die jihadistische Propaganda des Islamischen Staates seien: Denn das IS-Narrativ verspreche eine „Erlösung“von ihrer kriminellen Existenz – durch deren Legitimierung. Schuld am persönlichen Versagen sei eine „dekadente westliche Gesellschaft“, an der man Rache üben müsse, lautet die IS-Propaganda. Es sei kein Zufall, dass so viele Jihadisten in Europa in Gefängnissen rekrutiert und radikalisiert werden.
„Totaler Euphoriezustand“
Gerichtspsychiaterin Adelheid Kastner unterstreicht gegenüber der „Presse“, wie auffallend wenig diese Jihadisten über die islamische Religion und den Koran wissen. Auch sie spricht von einem „subjektiven Kränkungsgefühl“bei den Attentätern. Es handle sich oft um wütende junge Männer, die das Gefühl hätten, die Welt verweigere ihnen die enorme Anerkennung, die ihnen ihrer Meinung nach zustehe. Die Religion, die Ideologie, diene ihnen als „Vehikel“, um diese ultimative Gratifikation zu erreichen – durch das „ewige Paradies und die Belohnung im Him- mel“. Ebensowichtig sei es diesen Terroristen aber, durch ihren brutalen Akt mediale Berühmtheit und Aufmerksamkeit zu erlangen.
US-Terrorismusexpertin Anne Speckhard beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema. Sie hat auch schon potenzielle Selbstmordattentäter interviewt, die aus unterschiedlichsten Gründen davon abgehalten wurden, ihre geplante Tat zu vollziehen. Alle ihre Interviewpartner hätten fest daran geglaubt, für ihren Mord mit einem besseren Leben im Himmel belohnt zu werden, sagt sie der „Presse“. Einige Terroristen hätten ihr erzählt, dass sie sich vor dem geplanten Terror-Termin in einem „totalen Euphoriezustand“befunden hätten – wie in einem Drogenrausch. Eine Frau sagte, sie habe sechs Wochen auf die Bombe gewartet und sei „diese ganze Zeit high gewesen“.
Andere hingegen hätten sich aus Wut und wegen eines Verlusttraumas entschieden, den Selbstmordanschlag zu begehen. Diese verhinderten Attentäter hatten vor allem ihr Leben beenden wollen. „Sie wollten zu denen, die sie verloren haben.“Doch der Islam verbietet Selbstmord. Das von den Jihadisten propagierte „Märtyrertum“hätte ihnen den Selbstmord ermöglicht, „ohne in die Hölle zu kommen“.