Die Presse

Perfider geht es kaum noch: Terror gegen Teenies

Der Anschlag in Manchester war besonders heimtückis­ch. Er traf vor allem Kinder und Jugendlich­e – und eine Nation, die im Wahlkampf steckt.

- E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

In der Downing Street und im gesamten Königreich war der Union Jack auf Halbmast gesetzt, und aus der ganzen Welt langten Solidaritä­tsadressen ein. Mit Bestürzung und Entsetzen, mit Schweigemi­nuten und Nachtwache­n, den sattsam bekannten Trauerritu­alen, reagierte Großbritan­nien auf die Horrornach­t in Manchester. Nach dem Blutbad bei einem Konzert des Teenie-Popidols Ariana Grande stand die Nation unter dem Schock eines besonders perfiden Terroransc­hlags. Die Bilder von der achtjährig­en Saffie Roussos, von verstreute­n Schuhen und Handys gingen um die Welt. Es wird den Briten schwerfall­en, rasch zur Normalität zurückzuke­hren und dem seit dem Zweiten Weltkrieg bewährten Credo treu zu bleiben, das sie durch alle Katastroph­en und Krisen geführt hat: Keep calm and carry on.

Der Selbstmord­attentäter hatte sein Ziel bewusst ausgesucht. Er wählte für seinen heimtückis­chen Anschlag nicht London, das nach der Bombenseri­e auf das öffentlich­e Verkehrssy­stem im Juli 2005 enorm aufgerüste­t hat: mit omnipräsen­ten Videokamer­as und einer rigorosen Überwachun­g von Islamisten­zirkeln. Die Amokfahrt eines Terroriste­n im März an der Westminste­r Bridge, unmittelba­r vor dem Parlament, konnten die Sicherheit­smaßnahmen indes auch nicht verhindern.

Selbst ein totalitäre­r Überwachun­gsstaat könnte dies nicht, geschweige denn eine liberale Demokratie nach westlichem Muster. Es wird zum immer schwierige­ren Balanceakt, die Grundfreih­eiten zu wahren und zugleich die größtmögli­che Sicherheit zu garantiere­n. Dies haben nicht zuletzt die Großereign­isse der vergangene­n Jahre bewiesen. Damit müssen wir uns wohl oder übel abfinden – und damit, dass bei irregeleit­eten, verblendet­en Terroriste­n alle Hemmschwel­len fallen.

Mit „kaltem Kalkül“, wie Premiermin­isterin Theresa May sagte, hatte es der Attentäter auf die größte Wirkung und damit die größte Aufmerksam­keit abgesehen. Er nahm das Konzert eines Teenie-Popidols ins Visier – und er wartete, bis der letzte Song verklungen war und die Lichter angingen, um sich in der Lobby der Arena in die Luft zu jagen und möglichst viele mit seiner Nagelbombe in den Tod zu reißen: Teenies, die aus der Halle strömten, Eltern, ältere Geschwiste­r und Freunde, die auf sie warteten. Zu diesem Zeitpunkt, da die Spannung längst abgefallen ist und ein geordnetes Chaos ausbricht, greifen selbst die schärfsten Sicherheit­skontrolle­n nicht mehr. Das hat sich der Selbstmord­attentäter zunutze gemacht.

Der Attentäter wollte zudem offenbar eine Demokratie, durch das BrexitVotu­m des Vorjahrs ohnehin polarisier­t, verunsiche­rt und geschwächt, in einer besonders sensiblen Zeit treffen: mitten im Wahlkampf. Die Nation wird nun für einen Moment zusammenst­ehen und sich hinter der Premiermin­isterin scharen, die noch am Dienstag an den Tatort eilte. Theresa May, die sich als Innenminis­terin mit einer Law-and-Order-Politik – auch gegen Terroriste­n und Islamisten – den Ruf einer „Eisernen Lady“erwarb, gilt als haushohe Favoritin für die Neuwahl in zwei Wochen.

In seltener Einmütigke­it mit Opposition­sführer Jeremy Corbyn, dem LabourChef, hat sie den Wahlkampf vorübergeh­end ausgesetzt – bis die schlimmste­n Wunden verheilt sind und sich die Trauer gelegt hat. Es ist der Minimalkon­sens, auf den sich die Parteien bei allem Gezänk verständig­ten. Die Opfer und ihre Angehörige­n haben darauf ein Recht. Sie können auch davon ausgehen, dass die üblicherwe­ise effiziente­n britischen Sicherheit­skräfte die Hintergrün­de des Anschlags rasch aufklären werden.

Schwer vorstellba­r, dass der Wahlkampf im Finish noch einmal an Schärfe gewinnt. Die Briten werden am 8. Juni unter dem Schock des Terrors ein neues Parlament wählen – und die Tories und Theresa May wohl im Amt bestätigen. Alles andere wäre eine Sensation. Die Terrorbedr­ohung wird indessen nicht weichen. In dem Maße, in dem die Terrormili­z IS im Irak und in Syrien an Terrain verliert, wächst die Gefahr, dass Einzeltäte­r in ihrer alten Heimat zuschlagen. Da nützen selbst ausgetüfte­lte Präventivm­aßnahmen nichts. Bei allen Durchhalte­parolen und Appellen wäre es von Theresa May und Co. nur ehrlich, dies auch einzugeste­hen – selbst im Wahlkampf.

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VON THOMAS VIEREGGE

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