Perfider geht es kaum noch: Terror gegen Teenies
Der Anschlag in Manchester war besonders heimtückisch. Er traf vor allem Kinder und Jugendliche – und eine Nation, die im Wahlkampf steckt.
In der Downing Street und im gesamten Königreich war der Union Jack auf Halbmast gesetzt, und aus der ganzen Welt langten Solidaritätsadressen ein. Mit Bestürzung und Entsetzen, mit Schweigeminuten und Nachtwachen, den sattsam bekannten Trauerritualen, reagierte Großbritannien auf die Horrornacht in Manchester. Nach dem Blutbad bei einem Konzert des Teenie-Popidols Ariana Grande stand die Nation unter dem Schock eines besonders perfiden Terroranschlags. Die Bilder von der achtjährigen Saffie Roussos, von verstreuten Schuhen und Handys gingen um die Welt. Es wird den Briten schwerfallen, rasch zur Normalität zurückzukehren und dem seit dem Zweiten Weltkrieg bewährten Credo treu zu bleiben, das sie durch alle Katastrophen und Krisen geführt hat: Keep calm and carry on.
Der Selbstmordattentäter hatte sein Ziel bewusst ausgesucht. Er wählte für seinen heimtückischen Anschlag nicht London, das nach der Bombenserie auf das öffentliche Verkehrssystem im Juli 2005 enorm aufgerüstet hat: mit omnipräsenten Videokameras und einer rigorosen Überwachung von Islamistenzirkeln. Die Amokfahrt eines Terroristen im März an der Westminster Bridge, unmittelbar vor dem Parlament, konnten die Sicherheitsmaßnahmen indes auch nicht verhindern.
Selbst ein totalitärer Überwachungsstaat könnte dies nicht, geschweige denn eine liberale Demokratie nach westlichem Muster. Es wird zum immer schwierigeren Balanceakt, die Grundfreiheiten zu wahren und zugleich die größtmögliche Sicherheit zu garantieren. Dies haben nicht zuletzt die Großereignisse der vergangenen Jahre bewiesen. Damit müssen wir uns wohl oder übel abfinden – und damit, dass bei irregeleiteten, verblendeten Terroristen alle Hemmschwellen fallen.
Mit „kaltem Kalkül“, wie Premierministerin Theresa May sagte, hatte es der Attentäter auf die größte Wirkung und damit die größte Aufmerksamkeit abgesehen. Er nahm das Konzert eines Teenie-Popidols ins Visier – und er wartete, bis der letzte Song verklungen war und die Lichter angingen, um sich in der Lobby der Arena in die Luft zu jagen und möglichst viele mit seiner Nagelbombe in den Tod zu reißen: Teenies, die aus der Halle strömten, Eltern, ältere Geschwister und Freunde, die auf sie warteten. Zu diesem Zeitpunkt, da die Spannung längst abgefallen ist und ein geordnetes Chaos ausbricht, greifen selbst die schärfsten Sicherheitskontrollen nicht mehr. Das hat sich der Selbstmordattentäter zunutze gemacht.
Der Attentäter wollte zudem offenbar eine Demokratie, durch das BrexitVotum des Vorjahrs ohnehin polarisiert, verunsichert und geschwächt, in einer besonders sensiblen Zeit treffen: mitten im Wahlkampf. Die Nation wird nun für einen Moment zusammenstehen und sich hinter der Premierministerin scharen, die noch am Dienstag an den Tatort eilte. Theresa May, die sich als Innenministerin mit einer Law-and-Order-Politik – auch gegen Terroristen und Islamisten – den Ruf einer „Eisernen Lady“erwarb, gilt als haushohe Favoritin für die Neuwahl in zwei Wochen.
In seltener Einmütigkeit mit Oppositionsführer Jeremy Corbyn, dem LabourChef, hat sie den Wahlkampf vorübergehend ausgesetzt – bis die schlimmsten Wunden verheilt sind und sich die Trauer gelegt hat. Es ist der Minimalkonsens, auf den sich die Parteien bei allem Gezänk verständigten. Die Opfer und ihre Angehörigen haben darauf ein Recht. Sie können auch davon ausgehen, dass die üblicherweise effizienten britischen Sicherheitskräfte die Hintergründe des Anschlags rasch aufklären werden.
Schwer vorstellbar, dass der Wahlkampf im Finish noch einmal an Schärfe gewinnt. Die Briten werden am 8. Juni unter dem Schock des Terrors ein neues Parlament wählen – und die Tories und Theresa May wohl im Amt bestätigen. Alles andere wäre eine Sensation. Die Terrorbedrohung wird indessen nicht weichen. In dem Maße, in dem die Terrormiliz IS im Irak und in Syrien an Terrain verliert, wächst die Gefahr, dass Einzeltäter in ihrer alten Heimat zuschlagen. Da nützen selbst ausgetüftelte Präventivmaßnahmen nichts. Bei allen Durchhalteparolen und Appellen wäre es von Theresa May und Co. nur ehrlich, dies auch einzugestehen – selbst im Wahlkampf.