„Wir erleben Attentate mit Fatalismus“
Irak. Bagdads Erzbischof, Jean Benjamin Sleiman, berichtet vom Terror in Iraks Hauptstadt und der prekären Lage der Christen. Gegenüber der Idee von Schutzzonen für Christen ist er skeptisch.
Die Presse: In Großbritannien steht man unter Schock wegen des schrecklichen Attentats in Manchester. Sie sind Erzbischof von Bagdad. Die Bewohner der irakischen Hauptstadt leben seit vielen Jahren fast permanent mit Anschlägen. Wie gehen die Menschen dort damit um? Jean Benjamin Sleiman: Was in Manchester geschah, ist furchtbar. Nach einem Attentat in Bagdad ist das Leben in der Stadt blockiert. Dann sind die Straßen voller Rettungskräfte, Polizei und Geheimdienst. Wir erleben das nach wie vor mit einem gewissen Fatalismus. Die, die hinter den Anschlägen stecken, verfolgen politische Absichten. Wenn etwa ein Attentat in einem schiitischen Viertel verübt wird, ist das Ziel, die Schiiten noch mehr gegen die Sunniten aufzubringen. Mit jedem Attentat wird eine Art Botschaft gesandt, die die normalen Bürger meist gar nicht verstehen. Aber die politischen Adressanten verstehen sie. Gewalt ist leider eine eigene Sprache in der Politik.
Wenn man heute durch Bagdad geht, sieht man, dass dort, wo es einst gemischte Viertel gab, jetzt Schiiten und Sunniten getrennt voneinander leben. Ja, es gab konfessionelle Säuberungen. Aber es gibt nach wie vor keine hundertprozentige Trennung. Die bewaffneten Kräfte konnten die Menschen nicht völlig auseinanderbringen. Wir haben im Irak zentrifugale Kräfte, aber auch Menschen, die in Einheit leben möchten.
Derzeit konzentriert sich im Irak noch alles auf den Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Nach einem Sieg über den IS könnten aber diese innerirakischen zentrifugalen Kräfte wieder zunehmen. Haben Sie Sorge, dass die Christen bei einem solchen Konflikt erneut zwischen die Fronten geraten? Wenn der IS besiegt ist, dann wird es Frieden für alle geben. Wir befürchten aber sehr wohl, dass es dann auch zu neuen Konflikten um die Aufteilung der frei werdenden Territorien kommen könnte. Die Christen sind in diesem Verteilungskonflikt keine Protagonisten. Aber sie würden dann wieder Wunden davontragen.
Der IS hat die christliche Bevölkerung aus ihrem alten Siedlungsgebiet in der Niniveebene vor Mossul vertrieben. Jetzt konnte diese Region zurückerobert werden. Was muss getan werden, damit die Christen dorthin zurückkehren? Das ist vor allem eine Frage des Vertrauens. Es sind einige Christen zurückgekommen und haben sich ihre Häuser angeschaut. Aber sie durften nicht bleiben. Es gibt Kräfte vor Ort, die man berücksichtigen muss. Aber wenn die Häuser wieder aufgebaut sind und es Arbeitsplätze gibt, dann kann es Lösungen geben.
Um den Menschen dieses Vertrauen zurückgeben zu können, fordern einige christliche Geistli- che und politische Gruppen ein eigenes autonomes Gebiet für die Christen im Nordirak. Es gibt Argumente, die für ein solches Modell sprechen und Argumente dagegen. Es ist schwierig, sich innerhalb eines Milieus zu isolieren, das destabilisiert ist. Ich denke eher an ein Department, das eine Regierung hat und auf Entwicklung fokussiert ist als an eine Absicherung nach konfessionellen Kriterien.
Es gibt auch Forderungen nach militärischen Schutzzonen für die Christen in der Niniveebene? Das Militär löst keine Probleme. Wer wird die Menschen in diesen christlichen Schutzzonen verteidigen? Aus meiner Erfahrung aus dem Libanon kann ich auch sagen: Wenn man sich isoliert, wird man dadurch nur noch verletzlicher und angreifbarer. Die Koexistenz ist ein Mittel des Friedens.
Was erwarten Sie in dieser schwierigen Lage von Europa? Ich hoffe zunächst einmal, dass Europa seine eigenen Probleme lösen wird. Die Europäische Union muss eine richtige Union werden. Und wenn Europa geeint ist, dann kann es wirklich viel tun und Gleichgewicht in die Welt bringen. Es könnte eine echte Brücke werden zwischen dem Osten und dem Westen. Im Nahen Osten könnte es die Rolle des Vermittlers spielen. Europa könnte im Irak in Entwicklungsprojekte und in Bildung und Kultur investieren. Aber vor allem müssen die Kriege aufhören. Man kann nicht wiederaufbauen, solange Krieg geführt wird.