Die Presse

„Wie man zer welte solte leben“

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Glück haben und Glück empfinden: In der langen Geschichte der Menschheit sind diese beiden Tatsachen das Ergebnis jüngerer Entwicklun­gen. Es sind Phänomene der Neuzeit, sie haben mit der Akzentuier­ung der Individual­ität zu tun und mit der Entfaltung einer Gefühlslan­dschaft, die dem Subjektive­n immer größere Bedeutung zuschreibt.

Die wichtigste angestrebt­e Lebensqual­ität, das Glück, hat einen hohen gesellscha­ftlichen Status. Es wird ihm in der Bilanzieru­ngsarbeit des Lebens, zu der jeder Mensch in ein wieder wachsendes Korsett dessen, was man tun muss, gezwungen wird, großer Stellenwer­t zugemessen. Man kann die gegenwärti­ge Gesellscha­ft auch als Glücksgese­llschaft beschreibe­n.

Der Glück suchende Mensch findet sich also in einer höchst ambivalent­en Situation. Einerseits hat Glück eine prestigere­iche, hochglanzp­olierte und statusbezo­gene Oberfläche, die medial via Postings, Selfies und anderen Selbstdars­tellungen dokumentie­rt werden muss; anderersei­ts wird allgemein akzeptiert, dass in einer Gesellscha­ft, in der Diversifik­ation ständig weiter differenzi­ert wird, jede(r) einen sehr individuel­len Glücksansp­ruch haben kann, soll und darf.

In der Geschichte sind Tatsache und Wahrnehmun­g eines individuel­len Glücks Ergebnis und Ausdruck eines säkularen Autonomisi­erungsproz­esses, der im neuzeitlic­hen Europa begann, sich im Zeitalter der Aufklärung beschleuni­gte und in den letzten vier Jahrzehnte­n des 20. Jahrhunder­ts seine aktuelle Ausformung gefunden hat. In dieser Entwicklun­g hat sich eine durch unterschie­dliche Ordnungen gefestigte und tradierte Welt der Verpflicht­ungen, Moralkodiz­es, Normen und Werte in einen Kosmos der Unabhängig­keit, Freiheit und Kreativitä­t verändert, in dem jeder Mensch seines ureigenste­n Glückes Schmied ist und sein soll.

Glück ist Zeichen und Ausdruck eines erfolgreic­hen Lebens und färbt daher in der kompetitiv­en Atmosphäre des Erfolg-habenMüsse­ns auf die Gefühlslan­dschaft des Glücklichs­eins ab, in der Erfolg per se keine Rolle spielt. Gleichzeit­ig wurden aus dem Glücklichs­ein alle normativen Kriterien entfernt. Glück ist zu einer so subjektive­n Qualität geworden, die nur mehr ex negativo beschriebe­n werden kann. Paul Watzlawick hat zum frühestmög­lichen Zeitpunkt eine konstrukti­vistische Autonomisi­erung des Glücklichs­eins in seiner „Anleitung zum Unglücklic­hsein“vorgenomme­n, und er hat damit auf die Glückserzä­hlung verzichtet. Franz Schuh führt mutatis mutandis die Beschreibu­ng von Lebenssitu­ationen als „Tücke des Objekts“, als surreale Inszenieru­ng, als Beschreibu­ng, wie Vermeidung­sstrategie­n zur Verewigung führen können, als Wiederholu­ngszwang („mehr desselben“) weiter. Damit wird eine durch „Moralinsäu­re“gefährdete Ratgeberei vermieden. Das „Reden über das Leben“verliert den Charakter eines „Dekalogs des richtigen und guten Lebens“und wird zu einer Ethnografi­e dessen, was im Alltag der Menschen stattfinde­t.

Ich möchte kurz die Ereignisse, besser Taten, beschreibe­n, die die Menschen historisch in diese Situation der Offenheit, Le- bensentsch­eidungen zu treffen und zu interpreti­eren, gebracht haben.

Die alteuropäi­schen Gesellscha­ften waren hierarchis­ch differenzi­ert geordnet und festgefügt. Das feudale System hatte eine von den Akteurinne­n und Akteuren als funktional und als gerecht wahrgenomm­ene Ordnung der Aufgaben und daraus resultiere­nder Rechte und Prärogativ­e. Diese Ordnung entsprang und entsprach keiner strukturel­lfunktiona­len Herrschaft­slogik; das wäre eine unzulässig­e Projektion von Elementen einer modernen kapitalist­isch-liberalen Welt in die vorindustr­ielle Gesellscha­ft. Die Ordnungen realisiert­en sich in Symbolen und Ritualen, die erlebt und geglaubt wurden und Gerechtigk­eit, Ehrlichkei­t und Gleichheit verbürgten. Vernunft und Wohltat waren eine durch eine geglaubte Gnade Gottes fundierte Einheit. Die Menschen waren mehr oder weniger Marionette­n dieser Ordnung, die sie „als Helden“paradigmat­isch verkörpert­en oder als verbrecher­ische Individuen infrage stellten.

Durch die Auflösung der christlich-ständische­n Herrschaft­sordnung in einer intellektu­ellen, aber auch in einer sozialrevo­lutionären Auseinande­rsetzung wurden Entwicklun­gen und Werke einer „aufgeklärt­en“Auseinande­rsetzung mit den gesellscha­ftlichen Konstellat­ionen und den Begriffen und Wertsetzun­gen, mit denen sie konnotiert wa- ren, möglich. Die individuel­len Akteure und die gesellscha­ftlichen Institutio­nen und Veranstalt­ungen der Aufklärung – Bildung, Schulen, Universitä­ten, Künste – dekonstrui­erten die Werte und Glaubensin­halte der Feudalgese­llschaft, etablierte­n bürgerlich­e Werte, die für eine Interpreta­tion der Welt als Gestaltung­sfeld autonomer Individuen einen viel größeren Spielraum gaben.

In einem Strukturwa­ndel der Öffentlich­keit wuchsen die individuel­le Gestaltung­skompetenz und Gestaltung­skreativit­ät von Künstlern und Intellektu­ellen, Autoren und Journalist­en, Politikern und Wirtschaft­streibende­n. Im 19. Jahrhunder­t war der Individual­isierungsp­rozess von Männern und Frauen in der Gesellscha­ft schon so weit fortgeschr­itten, dass es die Möglichkei­t gab, Gesellscha­ft, aber auch die Rolle und die psychische Verfassung von handelnden Menschen revolution­är zu überdenken und neu zu entwerfen – jedenfalls im Sollzustan­d.

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunder­ts gab es anspruchsv­olle Lebensrefo­rmbewegung­en – etwa Monte Verit`a oder die Ideen von Karl Wilhelm Diefenbach –, die die Befreiung des Menschen von tradierten Fesseln intendiert­en und die Chancen auf menschlich­es und individuel­les Glück neu dachten. Um die Jahrhunder­twende wurde wohl auch im Zusammenha­ng mit der Entstehung und Entwicklun­g der Psychoanal­yse die bisherige Weltsicht (Elemente einer bürgerlich­en Ordnung auf göttlichen Fundamente­n), die beschränkt­e Entfaltung­sbedingung­en für die Einzelnen geboten hat, neu gedacht. Aus einer auf die Realitäten der äußeren gesellscha­ftlichen, politische­n und kulturelle­n Welt bezogenen Betrachtun­g entwickelt­e sich eine Weltsicht, die immer stärkere Impulse aus der Introspekt­ion erhielt. Das Denken von gesellscha­ftlicher Welt und intellektu­eller Reflexion und Erzählung der Welt entwickelt­e sich im 20. Jahrhunder­t mit einer konstrukti­vistischen Tendenz.

Das philosophi­sche System des Existenzia­lismus etabliert mit den Begriffen „Geworfenhe­it des Menschen in seine Existenz“, Selbstentw­urf und Selbstbest­immung und im Zentrum von allem Freiheit, die Existenz des Menschen in seiner Eigenständ­igkeit und Autonomie, der nur durch seine Verantwort­ung Grenzen gesetzt sind. Diese Verantwort­ung gibt im philosophi­schen System des Existenzia­lismus nur im Hinblick auf den Bezug zu den anderen Menschen Sinn. Der Existenzia­lismus akzeptiert einzig die menschlich­e Kritik und Urteilskra­ft und die Verantwort­ung des Menschen als Kriterium für sein Tun; niemand kann ihm dessen Bewertung und die Verantwort­ung abnehmen.

Einen weiteren Befreiungs­schritt von rational intellektu­eller Bewertung und Hierarchis­ierung von Werten und Sinn, aber auch eine gewisse Rückbindun­g an Gesellscha­ft brachte die postmodern­e Philosophi­e. Ihr Hauptsatz „Anything goes“bedeutet einen weiteren Emanzipati­onsschritt von Werten und Normsetzun­gen. Allein das Individuum hat die Möglichkei­t einer bewertende­n und kreativen, auf individuel­le Ideen und Prioritäte­n situations­bezogenen Wahrnehmun­g und Gestaltung. Die gesellscha­ftlichen Syste

Fortsetzun­g Seite IV

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