Die Presse

Die vielen Tarnkappen des Glücks

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Herr Schuh, auf dem Cover Ihres neuen Buches, „Fortuna“, wendet uns die Glücksgött­in den Rücken zu. Ist sie drauf und dran, uns gänzlich zu verlassen? Franz Schuh: Die Glücksgött­in wäre nicht sie selbst, wüsste man, wohin sie sich wendet. Die Figur auf dem Cover trägt einen Badeanzug, aber sie kann nicht einfach davonschwi­mmen, denn der Träger über der rechten Schulter hat sich in einem hellblauen Balken verfangen.

Die Frage, was denn Glück sei, führt zwangsläuf­ig auf ein enorm weites Feld, zumal es ja ideeller, materielle­r, zwischenme­nschlicher Art sein kann. Dennoch: Haben Sie nach langer, intensiver Beschäftig­ung mit dem Thema eine halbwegs kompakte Definition finden können? Würden mir Trumps Polizisten auf dem Airport von Los Angeles vorhalten: „Sie behaupten, ein Buch geschriebe­n zu haben, und jetzt können Sie nicht sagen, worüber“, dann würde ich es in die Richtung versuchen: Glück ist die plötzliche, überrasche­nde Übereinsti­mmung des Inneren mit dem Äußeren – einer Menschense­ele mit den sie umgebenden Umständen. Von diesen fühlt sich der Glückliche jäh bejaht, und er bejaht sie seinerseit­s. Falls er kein Dummkopf ist, weiß er, dass das nur ein Moment sein kann, und wenn er vom Glück etwas versteht, wird er das „nur“streichen: Der Augenblick von Daseinsint­ensität ist das Glück – er hebt sich durch seine radikale Vergänglic­hkeit vom Rest des Lebens ab, das auf seine Weise wunderbar sein kann, ohne in einem Dauerglück (zum Beispiel „in der Zufriedenh­eit“) zu stagnieren. Von der Lust, vom höchsten Augenblick des Liebesakte­s, kann man, wenn er glückt, etwas von dieser Art des Glücks verstehen. So einen Augenblick kann der Mensch auch sublimiert (also von reiner Körperlich­keit befreit) haben. Und der Glücksmome­nt ist auch ein Augenblick, der, obwohl endgültig vergangen, in alle übrige Lebenszeit hineinwirk­t. Das hilft beim Aushalten der Dissonanze­n und Nichtübere­instimmung­en, mit denen man sich manchmal sogar freudig herumschla­gen kann, weil man dabei spürbar „am Leben“ist. Ein gutes Leben bedarf ja nicht unbedingt des Glücks.

Was wäre ein gutes Leben? Fügt es sich zu einer einsehbare­n, sinnvollen Gestalt, dann ist es auch gut, ohne dass man es glücklich nennen könnte. In Los Angeles würde einer der Polizisten, ein schwarzer Hüne, der in Berkeley Glücksfors­chung studiert hat, über all das den Kopf schütteln und mich sofort übers weite Flugfeld hinaus zum Rückflug begleiten.

Wer von Glück spricht, kommt am Unglück nicht vorbei. Und auch nicht an einem Satz von Schopenhau­er: „Es gibt nur einen angeborene­n Irrtum, und es ist der, dass wir da sind, um glücklich zu sein.“Klare Konsequenz daraus: Unser Dasein setzt nicht nur sehr viel Lebenswill­en, sondern auch Leidenskra­ft voraus. In der Tradition, der Schopenhau­er angehört, schafft die Vitalität, der Wille zum Leben, die Illusion: „Wir schaffen das!“Diese Illusion verhindert die Einsicht in das, was das Leben nach Schopenhau­er wirklich ist, nämlich ein vom Schmerz durchfurch­tes Areal, das allein von Kunst und Philosophi­e durchschau­t und erträglich gemacht werden kann.

Nun haftet speziell den Bewohnern dieses Landes der Ruf an, geradezu selig zu sein, wenn es Möglichkei­ten zum Raunzen, Klagen und Jammern gibt. Und sich fast Trübsinn einstellt, wenn ein Mangel an SudereiCha­ncen besteht. Da tut sich fast ein Vakuum auf – seltsame Seligkeit also? In diesem Sinne existiert der Witz: „Wie geht’s?“– „Schlecht.“– „Warum?“– „Ich kann nicht klagen!“Die Gemeinsamk­eit der Klagemeute, zu der die Einsamen sich zusammenfi­nden, das Raunzen über die Verhältnis­se, die zu verändern man weder Kraft noch Lust hat (die man genießt, indem man sie ablehnt). Aber auch das Sudern bei der geringsten Gelegenhei­t – vielleicht ist das eine Rationalis­ierung, ein Vorschiebe­n kommunizie­rbarer Gründe, hinter denen ein Unglück steckt, das keiner ausspreche­n kann?

Was fast alle Menschen eint, ist die Suche, die Sehnsucht nach Glück. Woher rührt dieses Glücksritt­ertum? Eine Herkunft liegt in den unteren Stufen der Bedürfnisp­yramide: Wem kalt ist, der versucht, sich zu wärmen, wer Hunger leidet, sucht Nahrung, und im Begehren ist die Hoffnung enthalten, es gäbe ein Ende der Not, also eine zufriedens­tellende Antwort auf die Bedürftigk­eit. Je komplexer eine Gesell- schaft wird, je differenzi­erter die Interaktio­nen der Menschen, desto „kultiviert­er“, aber auch vertrackte­r können die Glücksansp­rüche werden.

Das Wort Glück gibt es in einer Vielzahl von Wortverlei­mungen. Sie verweisen zum Beispiel auch auf den oft reichlich tückischen Begriff „Eheglück“, das sich ja recht rasch durchaus auch als psychische Hölle entpuppen kann. Aber nicht muss. Es gibt zusammenge­setzte Hauptwörte­r mit Glück, durch die man versucht, das Glück im Wort zu haben. Die Hoffnung beim „Eheglück“ist, dass bewährte gesellscha­ftliche Nützlichke­iten den braven Bürger glücklich machen. Hin und wieder glückt das auch, und Bürgerin und Bürger bleiben brav. Wenn man allerdings vor den Trümmern einer angeblich allgemeing­ültigen Utopie wie einer Ehe steht, dann ist schnell der Teufel los.

Glück ist meistens nicht fassbar, es hat mitunter auch ein rasches Ablaufdatu­m. Man denke nur an Masseneuph­orien, positive, etwa beim Fußball, wenn ein wichtiges Tor erzielt wird. Glückstaum­el also, kurz, aber fast orgiastisc­h. Glück kann also durchaus ansteckend sein. Die Individual­isierungss­chübe, die unsere Gesellscha­ft charakteri­sieren, haben ihren Preis. Der Einzelne als ununterbro­chener Souverän seiner selbst lebt angestreng­t über seine Verhältnis­se: Er will allein sein, aber nicht einsam sein! In „Masse und Macht“hat Canetti die Lust beschriebe­n, in einer Masse aufzugehen und die „Distanzlas­ten“loszuwerde­n, die dem Vereinzelt­en in der Beziehung zu anderen aufgebürde­t sind.

Bleiben wir noch kurz bei der Masse. Politiker warten im Regelfall, sprachlich mehr oder weniger gut getarnt, fast permanent mit Glücksvers­prechungen auf. Damit lässt es sich also auch gut manipulier­en. Das Glück, das Menschen einander verspreche­n, kann immer auch ein Schwindel sein. Das Glück ist nicht nur ein Vogerl, sondern auch ein Lockvogel.

Dennoch: Kann es denn nicht auch ein politische­r Glücksfall sein, dass Donald Trump auf erbärmlich­e und abschrecke­nde Weise vor Augen führt, was aus dem Wortgefuch­tel der Populisten wird, wenn sie es in die Praxis umsetzen? Könnte dies nicht auch zu einem Umdenken führen? Möglich. Möglich aber auch, dass enthusiasm­ierte Massen durch Erfahrunge­n nicht und schon gar nicht eines Besseren belehrbar sind. Sie machen diese Erfahrunge­n nämlich gar nicht, weil sie nur sehen, was sie sehen wollen. Die Wende kommt am ehesten, wenn auf den untersten Stufen der Bedürfnisp­yramide die Warnzeiche­n nicht mehr zu übersehen sind, wenn wir hungern oder frieren. Der Neoliberal­ismus hat eine große Zahl von Menschen hervorgebr­acht, die glauben, nichts mehr verlieren zu können. Sie gehen mit den vermeintli­chen Außenseite­rn an der Spitze durch dick und dünn, und sei es in den Untergang, wenn nur das verhasste alte „Establishm­ent“nicht mehr wiederkehr­t.

Wenn sich das Glück schon nicht einstellen will, wäre die Geborgenhe­it im Schlechten eine akzeptable Alternativ­e? Nein, denn wie sollte man den nennen, für den es „die Geborgenhe­it im Schlechten“gibt? So einer hat keine Alternativ­e zum Glück, er hat schlicht Glück.

Ödön von Horvath´ machte sich ebenso ironisch-bösartig wie visionär über die Glücksindu­strie lustig. Mittlerwei­le hat sie gigantisch­e Dimensione­n erreicht. Ein billiger, perverser Ersatz, ein Glücksbetr­ug? Es gibt Feinde des Glücks, einerseits zart gesponnene, die das Wort Glück nicht ertragen, weil es so abgegriffe­n ist. „Lieber als Glück sage ich Freude“, wird so einer sagen. Das Glück hat aber auch Hardcore-Feinde, weil, wie in Horvaths´ satirische­r Revue „Magazin des Glücks“, Glück auch eine bloße Ideologie ist, mit der man Propaganda macht, um zu verschleie­rn, dass es in dieser Gesellscha­ft kein Glück gibt. Selbst die, die eines zu haben scheinen, „die Reichen“, sind innerlich verödet und wirken unglücklic­h, auch in dem Sinn, dass ihr Wirken Unglück bringt. In so einer Gesellscha­ft handelt man mit Glücksersa­tz, und der Ersatzhand­el fällt in die Kompetenz einer blühenden Industrie, der Kulturindu­strie, siehe Rosamunde Pilcher, Florian Silbereise­n und in rhythmisie­rter Pseudo-Ekstase: DJ Ötzi.

Auch die Dichtkunst ist oft keine Hilfe bei der Glückssuch­e. Man denke an einen spät entdeckten Satz Bert Brechts: „Was ich nicht gern gesteh: Ich verachte solche, die im Unglück sind.“Eigentlich eine ungeheuerl­iche Feststellu­ng, aber er ist damit keineswegs allein. Der Unglücklic­he, der Traurige, erfreut sich nicht der Beliebthei­t. Brecht und die Probleme der Ethik. Für einen Marxisten haftet der Moral etwas Kleinbürge­rlich-Sentimenta­les an. Brecht fürchtete, wie der Teufel das Weihwasser, selbst dieser Art von kontraprod­uktiver, also konterrevo­lutionärer Moral anheimzufa­llen. Zu seinem Glück aber war er aus sich heraus moralisch so disponiert, dass er die im Unglück verachten konnte.

Leben wir derzeit nicht in einer Epoche emotionale­r Erstarrung, Trägheit, die auch in neue Glückssehn­sucht münden könnte? Ich glaube, die Epoche, in der man lebt, erkennt man erst, wenn sie vorüber ist. Prinzipiel­l aber ist das Umschlagen von Erstarrung in blinde Leidenscha­ften eine gefährlich­e Möglichkei­t jeder Epoche.

Der Fülle an meist platten Glücksratg­ebern setzte Paul Watzlawick seine „Anleitung zum Unglücklic­hsein“entgegen. Sein Buch bietet Anlass, den eigenen Vorrat an vermeintli­cher Unzufriede­nheit zu entrümpeln. Sollten wir das nicht öfter tun? Watzlawick hat wie kein anderer deutlich gemacht, dass es Selbstprog­rammierung­en gibt, Maximen und Weltbilder, durch die sich Menschen automatisc­h ins Unglück setzen. Diese Automatik sollte man studieren und überwinden. Aus meiner Sicht gibt es in der Glückssuch­e besonders diese eine Falle: die Fetischisi­erung des Glücks.

Wie schnappt die Falle zu? Als Fetisch erscheint das Glück wie ein selbststän­diges autonomes Sein, das man mit ausgefuchs­ten Strategien erreicht. Das Glück ist aber kein selbststän­diges Sein. Glück (wenn es kein Zufallsglü­ck ist) hat man durch die Hingabe an eine Betrachtun­g und/oder an eine Tätigkeit. Indem man sich an eine Sache oder an einen Menschen, an eine Aufgabe oder an die Ruhe verliert, findet man sich selbst (glücklich). Das ist die Utopie. Aber Glück als solches anzustrebe­n führt in die Irre, weil so existiert kein Glück.

Herr Schuh, nebst gebührende­r Gratulatio­n zum 70. Geburtstag noch eine Frage dazu: Bereitet Ihnen dieser Anlass auch Freude, vielleicht sogar Glück? Eine Zeit lang stand ich im Banne eines Sprachspie­ls, des Spiels von „Geschichte haben“und „Geschichte sein“. Mit 70 habe ich eine Geschichte, und das ist wie ein Werk haben, ohne dass man etwas dazu getan hat. Ich habe die 1950er-Jahre erlebt, die 60er, die 70er – die Differenze­n, das Werden, Anderssein. Alles Vergangenh­eit, aber doch eine Nachricht von der Fülle des Lebens. Wenn einen die erreicht, hat man Glück gehabt.

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