Die Presse

Eine Welt, die Helden braucht

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Was ist ein Held? Wer ist ein Held? Platon glaubte einst, dass das Wort Heros (Held) vom Worte Eros (Liebe) stammt. Schlechte Philologie, doch gute Philosophi­e. Heldentum hat wahrlich viel mit Liebe zu tun. Menschen, die man Helden nennt, opfern etwas, was für sie wesentlich ist, für etwas, was noch wesentlich­er ist, was sie am meisten lieben. Was ist im Allgemeine­n wesentlich? Reichtum, Ruhm, Position, Freiheit des Leibes, Tradition, Anerkennun­g, Leben. Was lieben sie am meisten, was opfern sie nie? Freiheit des Geistes, Kern ihrer Persönlich­keit, ihre moralische Überzeugun­g, ihre Ideen. Wofür opfern sie all dies? Für ihr Volk, Familie, für ihre Ideen, Gedanken, für ihre eigene Persönlich­keit, für andere Menschen, für Gott. Das heißt: für eine Liebe, ihre größte Liebe, die alle anderen Arten ihrer Liebe übertrifft.

Beinahe in allen Zeiten gibt es ein allgemein anerkannte­s Modell des Heldentums. In beinahe allen Zeiten sind die meistgeehr­ten Helden Krieger, die viele Feinde in Schlachten töteten und den Sieg mit ihrem Leben bezahlten. Die Liebe dieser Helden ist eine geteilte, gemeinsame, sozusagen obligatori­sche Liebe, die man von allen Männern einer Gemeinscha­ft erwartet, diese Liebe ist nie die Ausnahme, immer die Regel. Manchmal schätzen wir noch heute einige dieser Helden hoch, manchmal finden wir sie eher komisch, wie einen Mucius Scaevola, der seine Liebe zu Rom damit bewies, dass er seinen Arm ins Feuer streckte.

Doch auch die besten dieser Helden haben nichts zu tun mit den Helden, für die ich heute diese Lobrede halte. Nicht so sehr wegen der Verschiede­nheit der Objekte ihrer Liebe, denn manche von ihnen wollten unter anderem auch die Ehre eines geliebten Vaterlande­s schützen. Doch die Taten, die diese Liebe zum Ausdruck brachten, waren wesentlich anders. Ihre Liebe wurde nicht von der Gemeinscha­ft geteilt. Sie waren nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Sie wurden von ihren Mitmensche­n nicht hoch geschätzt, nicht einmal verstanden, manchmal eher gehasst, verachtet oder als verrückt erklärt.

Für Philosophe­n ist dieses Gegenmodel­l wohl bekannt. Unser Held ist vom Anbeginn Sokrates gewesen. Ein Mensch, den seine eigene Stadt zu Tode verurteilt­e, weil er nicht die Götter der Polis ehrte, weil seine Ideen seinem Gewissen angemessen waren, weil er seiner Idee, seinen Gedanken, seinem Gewissen treu blieb. So auch Giordano Bruno. Sie waren die Ausnahme, nicht die Regel. Sie sagten nicht „Ja, gewiss, ich tue, was alle von mir erwarten“, doch „Ich tue nicht, was man von mir erwartet, denn ich erwarte von mir selbst etwas anderes, was die Stimme meines Gewissens mir befiehlt, meinen Ideen angemessen“.

Tapferkeit hat viel mit Treue zu tun. Denn Liebe setzt auch Treue voraus. Treue für den Geliebten. Doch, muss ich wieder einmal fragen, wem gilt diese Liebe? Diese Treue? Und wie drückt man diese Liebe aus?

Wer ist tapfer? Wer ist ein Held? Man kann Galilei zustimmen: Es sind schlechte Zeiten, die keine Helden haben. Doch kann man auch dem Schüler zustimmen: Es sind schlechte Zeiten, die Helden brauchen. Aber was ist Heldentum in den schlechtes­ten der Zeiten? Wer sind Helden in den schlechtes­ten der Zeiten?

Sie können für Wahrheit und Freiheit kämpfende Frauen oder Manner sein, ähnlich den wohlbekann­ten und heute hochgeschä­tzten Helden des Glaubens wie Thomas Morus oder Jan Huss. Sie können auch einfach anständige Menschen sein. Denn es gibt Zeiten, in denen ein anständige­r Mensch auch ein Held wird, weil die Zeiten Anständigk­eit mit Tod bestrafen können, Zeiten, in denen man anständige Menschen als Verrückte, Geisteskra­nke auslacht. Zeiten, in denen die Wertetafel auf den Kopf gestellt wird, in denen ein Mensch, der keinen Meineid schwört, einer, der den Unschuldig­en zu töten verweigert, einer, der seinem Mitmensche­n hilft, sein Leben rettet, hingericht­et wird. Es gibt solche Zeiten, in denen Fahnenfluc­ht keine Sünde, Flucht vorm ungerechte­n Kriege nicht Zeichen der Feigheit ist, sondern Tapferkeit und Mut verlangt.

Mit diesem Mahnmal-Denkmal ehren wir heute Menschen, die einen Namen hatten. Wir ehren Menschen, deren Namen wir jetzt, nach langer Zeit, kennenlern­ten. Doch wir ehren auch Menschen, deren Namen wir nicht kennen. Wir ehren auch die vergessene­n, die unbekannte­n guten Menschen, denen so viele dem Tod Geweihten ihr Leben verdanken. Die ein Stück Brot von ihrem Munde sparten, um es einem anderen zu geben, die Flüchtling­en mit Rat und Heim halfen, die einen Brief ins Gefängnis schmuggelt­en, die einen Flüchtling warnten, nicht in die Richtung, aus der Gefahr drohte, sondern in eine andere Richtung zu gehen, die sich weigerten, in die verlassene Wohnung einer Vertrieben­en zu ziehen. Sie taten es, weil das für sie natürlich gewesen war und das Gegenteil unnatürlic­h.

So ehren wir zusammen mit Menschen, deren Namen und Taten wir kennen, auch namenlose gute Menschen. Kämpfende Menschen, die einer starken Idee folgten, wie auch andere, die nur einfach anständig bleiben wollten, wieder andere, die Gewalt hassten und nicht mitmachen wollten, weil sie nicht mitmachen konnten. Wie Hilde Meisel in ihrem Gedicht schrieb: „Life is sometimes so oppressive / So unbearably hard / one must be brave to live at all / Far braver, than to hear the call / Of some great cause, to give / One’s life, and be done with it all“. Liebe zur Idee, Liebe zum Mitmensche­n, Liebe zum reinen Gewissen, auch Liebe zur Heimat, zum Haus, Liebe zur Treue und Liebe zu Gott.

Ich will jetzt nur einige der Märtyrer aus Vorarlberg erwähnen: Hilde Meisel (MonteOlday) war eine Sozialisti­n, auch Jüdin, von Anfang an eine politische Gegnerin des Nazismus. Sie wirkte in Anti-Nazi-Organisati­onen mit. Ihre große Liebe galt dem zukünftige­n, vereinigte­n, sozialisti­schen, gerechten Europa. Sie starb für diese Zukunft.

Ernst Volkmann, der den Eid auf Hitler verweigert­e, weil seine Treue nur Gott galt. Seine Familie verließ ihn, die Nachtbaren glaubten, er sei verrückt. Er hat sein Leben für Liebe und Treue geopfert. Liebe und Treue zu Gott und zum missbrauch­ten Vaterland.

Josef Anton King war ein Sprachgeni­e, der sein Wissen und Können zunächst zum friedliche­n und freundscha­ftlichen Verkehr mit den Zwangsarbe­itern mobilisier­te. Spä- ter, als Dolmetsche­r der Gestapo im Ostarbeite­rlager, vermittelt­e er den Häftlingen Nachrichte­n der Auslandsse­nder und nahm mit einer Widerstand­sbewegung Kontakt auf. Verhaftet, nach Mauthausen deportiert, hingericht­et. Seine Liebe galt den leidenden Mitmensche­n, denen er persönlich half, dann auch im politische­n Sinne Beistand leistete. Liebe zum Mitmensche­n wurde Liebe zur Freiheit, Treue zum guten Gewissen.

August Weiss war seit seiner Kindheit ein Pazifist. Die Ablehnung der Nazi-Ideologie folgte unmittelba­r seinem Pazifismus. Er wollte nicht als Soldat kämpfen. Mit anderen Militärstr­äflingen war er im Konzentrat­ionslager Aschendorf­er Moor, ein Lager, das wenige überlebten. Dort traf er einen Häftling, der die für ihn neuen Begriffe Demokratie, Presse- und Religionsf­reiheit in sein Leben brachte. Er fing an, wir er später sagte, positiv zu denken. Von da an litt er nicht nur wegen seines Hasses gegen Gewalt, sondern auch wegen seiner Liebe zu Freiheit und Demokratie.

Deserteure werden in normalen Zeiten verachtet. Aber wir sprechen jetzt nicht über normale Zeiten. Wehrmachtd­eserteure waren nicht feige, im Gegenteil, ihr Risiko war größer als die der kämpfenden Soldaten. Sie wollten einfach nicht weitermach­en. Man sagte ihnen, dass es nicht die Aufgabe der Soldaten sei zu entscheide­n, ob ein Krieg gerecht oder ungerecht ist. Sie haben sich dennoch entschloss­en. Ihre Liebe galt der Wahl, der Freiheit zur Wahl. Zwei von ihnen, Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, haben ihr Leben für diese Wahl geopfert.

Wie es August Weiss schrieb: „Es gibt überall gute Menschen.“Es gab auch gute Menschen in Vorarlberg, deren Namen wir nicht kennen. Viele österreich­ische Juden (wie meine Tante) flüchteten in die Schweiz durch Vorarlberg, wie es auch viele politische Flüchtling­e taten. Jemand hat ihnen geholfen, guckte in die andere Richtung.

Wie es auch böse Menschen gibt, wie die Leute, die zwei Wehrmachtd­eserteure angezeigt haben. Die meisten sind weder nur böse noch nur gut, doch feige, schwach und gehorchen Befehlen; die meisten Leute tun, was man von ihnen erwartet. Die Ausnahme des Guten verdient die Ehre der Erinnerung, weil diese Ausnahme als Beispiel dient.

Dieses Mahnmal steht für die Ehre der Erinnerung. Es steht auch als Symbol der Bezahlung einer alten Schuld.

Wir leben in glückliche­ren Zeiten, in denen man für bloße Ehrlichkei­t nicht mit dem Leben bezahlen muss. Doch die Bereitscha­ft dazu kann man auch heute lernen. Ein Mahnmal mahnt uns: Vielleicht, wer weiß, werden wir es noch brauchen.

Heller hielt diese Rede 2015 in Bregenz anlässlich der Enthüllung des dortigen Widerstand­s-/Deserteurd­enkmals.

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