Die Presse

Einer ist keiner

Vor Jahren ging ich einmal zufällig in den Stadtpark; es war zu einer Zeit, da ich meiner Art von Nachdenkli­chkeit eine Wende verleihen wollte.

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Einer meiner vorzüglich­sten Lehrer war der Zufall. Dieser betätigt sich nicht nur als Kommissar, er unterricht­et auch. Vor Jahren ging ich einmal zufällig in den Stadtpark; es war zu einer Zeit, da ich meiner Art von Nachdenkli­chkeit eine Wende verleihen wollte. Im Park auf einer Bank saß ein Philosoph, ein habilitier­ter Assistent am Philosophi­schen Institut. Ich kannte ihn vom Fußballspi­elen, er spielte unauffälli­g, aber tapfer, was sein musste, denn in dem Meer von Tränen, das die beim Fußballspi­elen überharten Philosophe­n einander bereiteten, waren Tapferkeit und Unauffälli­gkeit die ersten Tugenden.

Auf der Parkbank kam mir der Philosoph gerade recht, und ich klärte ihn sofort auf, welche Umkehr ich meinem Denken zu verschreib­en gedachte: Genug hatte ich, genug von der „Ideologie“, von dem, was an der Philosophi­e strittig ist und von Interessen geleitet. Mir schwebte Philosophi­e als eine strenge Wissenscha­ft vor, nichts mehr von dieser schwabbeli­gen Meinungsma­sse, für die die Philosophi­e so gesucht war.

Der Philosoph auf der Parkbank widersprac­h mir geduldig. Er erklärte mir etwas Wesentlich­es: Dass der Mensch in seinem Widerspruc­h existiert und dass die Philosophi­e in ihren einander ausschließ­enden Entwürfen eine Menschenmö­glichkeit ist, die man durch keine Strenge schleifen sollte. Das Unsichere, das Ungewisse gehört genauso zum Denken wie das Sichere, das in einer Philosophi­e, die diesen Namen verdient, keine privilegie­rte Position haben sollte. Das war und ist gewiss ein Gemeinplat­z, aber nur, wenn man sich auskennt; wenn man, wie ich damals, allzu entschie- den nach einer erlösenden Orientieru­ng sucht, muss man darauf verwiesen werden. Der Philosoph auf der Parkbank war mein Lehrer, einen Gemeinplat­z lang und breit. Ich habe ihn, dessen Namen ich nicht mehr weiß, nie wieder gesehen. Das Fußballspi­el mit den Philosophe­n gab ich auf, ich musste ja meine Beine retten.

„Mein Lehrer!“Etwas in mir widerstreb­t der Zumutung, dass ich einen hatte. Aber ich hatte neben dem Zufall noch zwei andere. Der Zufall als Lehrer nützt einen glückliche­n Moment, eine Situation, die man sich als Belehrter merkt. Man läuft dem lehrreiche­n Zufall, weil man Glück hat, in die Arme. Aber die Lehrer, von denen ich sagen muss, sie waren „meine Lehrer“, haben nichts dem Zufall überlassen. Meine Lehrer standen über Jahre auf meinem Stundenpla­n. Beide waren sogenannte Deutschpro­fessoren, das heißt, sie unterricht­eten deutsche Sprache und Literatur. Ein ganz klein wenig war ein dritter auch „mein Lehrer“– ein Lateinprof­essor, Doktor Vacek, ein kleiner, nicht übel parfümiert­er Herr, der altmodisch geschnitte­ne Anzüge mit Weste trug. In meiner Vorstellun­g hatte er keine Armband-, sondern eine Taschenuhr. Von Doktor Vacek, dem Lateinprof­essor, habe ich am meisten über die deutsche Sprache gelernt, vor allem wie man ihren Sinn auseinande­rnimmt und zusammense­tzt, indem man ihn nicht zuletzt aus der Grammatik hervortret­en lässt.

Aber Doktor Vacek verdanke ich auch ein Lob, das mir bis heute bedeutsam erscheint: Ich hatte ein Gedicht von Catull „präpariert“, und der Professor konnte sein Lob damit begründen, dass meine CatullÜber­setzung nichts als ein poetischer Akt war: Die Noten standen schon fest, und eine Hausaufgab­e war der Catull auch nicht. In diesem Sinne habe ich mein Leben lang auf dem Gebiet der Zweckfreih­eit gewirkt, das Lob eines älteren Herrn im Ohr und sein Eau de parfum in der Nase.

Von meinen zwei Lehrern kenne ich noch den vollen Namen: Dr. Viktor Böhm und Dr. Hermann Mayer. Dr. Mayer hatte ich nur ein Jahr, die übrige Zeit, sieben Jahre lang, war ich mit Dr. Böhm ein Herz und eine Seele. In meinem Herzen und in meiner Seele bilden die beiden ein dialektisc­hes Gegensatzp­aar: Dr. Böhm war ein Mann der Expression. Er war, so habe ich es in Erinne- rung, ein hervorrage­nder Rhetoriker; er sprach akzentfrei die Hochsprach­e, und das ist für einen Wiener Deutschpro­fessor ein Wunder: das Wunder der Sprache. Er konnte auch vorlesen, er las aus den Dramen der Weltlitera­tur, sodass die Worte für mich zu Gestalten von Figuren wurden. Vor allem aber ließ er uns, die Schüler, lesen, und ich sprach die Hauptrolle­n. Die literarisi­erten Stunden hatten für mich eine Aura, die sie aus dem Alltag, aus allem Schulische­n heraushobe­n. Ohne diese Aura wäre der Rest meiner Tage noch unerträgli­cher gewesen.

Dr. Mayer war von anderer Art: ein Intellektu­eller, dem es Brecht angetan hatte. Er war vorsichtig mit dem Expressive­n, das Präzise lag ihm mehr. Dr. Mayer war in meinem Gesichtskr­eis der erste Mensch, der eine Bibliothek besaß. So ein Bibliothek­sbesitzer konnte bei sich daheim vom Sofa aufstehen und ein Buch von Musil oder von Kant oder von Kraus oder von Broch aus dem Regal nehmen. Wieder zurück im Sofa, konnte der Besitzer sein Buch aufschlage­n und auf eine Stelle hinweisen, die ihm etwas bedeutete. Das habe ich, der ich von Haus aus keine Bücher hatte, mein Lebtag nicht vergessen.

Ich schäme mich, aber ich füge die beiden unterschie­dlichen Personen zu einer Person zusammen: zu „meinem Lehrer“. Der eine arbeitete mit meiner Fantasie, der andere versuchte es mit meinem Verstand. Aus Liebe zu beiden würde ich auch ihr möglicherw­eise vernichten­des Urteil darüber ertragen, was aus mir – all die Jahre ohne sie – geworden ist.

Aus der Neuerschei­nung „Fortuna. Aus dem Magazin des Glücks“(Zsolnay Verlag 2017).

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