Ganz ohne die USA geht es nicht
Sicherheit. Frustriert von Trumps Auftritt bei Nato und G7 rief die wahlkämpfende deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, Europa auf, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Wo die EU von Amerika abhängig ist.
Washington. Mit ihrem Aufruf, angesichts der Haltung von US-Präsident Donald Trump müsse Europa sein Schicksal in die eigene Hand nehmen, sprach Angela Merkel die tief greifenden Differenzen im transatlantischen Verhältnis offen an. Wenige Monate vor der Bundestagswahl profiliert sich die Kanzlerin damit als Chefin eines Kontinents, der sich von dem ungeliebten US-Präsidenten abgrenzt. Doch in der Sicherheitspolitik ist Europa stark von den USA abhängig.
Auslöser des Streits zwischen Trump und den Europäern ist die Forderung, die Nato-Staaten müssten mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Verteidigung stecken. Außer den USA erfüllen bisher nur Großbritannien, Griechenland, Estland und Polen diese Bedingung. Die USA geben 3,6 Prozent ihres BIPs für die Rüstung aus; allerdings hat die Weltmacht Amerika anders als die meisten anderen Nato-Mitglieder globale Interessen, die eine starke Militärpräsenz auch in Ostasien oder im Pazifik erfordern. Amerika hat mehr Flugzeugträger als der Rest der Welt zusammen.
Mit ihrem riesigen Militär – 1,3 Millionen Soldaten, ein Wehretat von mehr als 600 Milliarden Dollar, über 6000 Atomwaffen, 14.000 Kampfflugzeuge, mehr als 70 U-Boote – schützen die Amerikaner die Europäer seit mehr als einem halben Jahrhundert. Die Zahl der auf dem Kontinent stationierten US- Soldaten ist seit dem Ende des Kalten Krieges zwar von etwa 350.000 auf heute 62.000 geschrumpft. Dennoch bilden die Panzer, Kampfflugzeuge und Atomwaffen der Supermacht ein Abschreckungsgerüst, das etwa mit Blick auf Russland unverzichtbar ist.
US-Schutzschild für Verbündete
Hinzu kommt die amerikanische Stärke bei der globalen militärischen Machtprojektion. Ob Elitesoldaten in Pakistan in einer Geheimaktion den al-Qaida-Chef Osama bin Laden töten, US-Kriegsschiffe im Mittelmeer mit Marschflugkörpern einen Luftwaffenstützpunkt in Syrien angreifen oder US-Experten von der Türkei aus mit einem Radarsystem ein Auge auf den Iran halten: Es gibt kein anderes Land, das überall auf dem Globus jederzeit eingreifen kann.
Auch die Möglichkeiten der US-Geheimdienste sind für die europäischen Partner von höchster Bedeutung, die kein vergleichbares Netz aufbieten können. Als der NatoPartner Türkei Ende der 1990er-Jahre den flüchtigen kurdischen Rebellenchef Abdullah Öcalan jagte, lieferten die Amerikaner, deren Abhörtechnologie das Telefon Öcalans in Kenia geortet hatte, den entscheidenden Hinweis zu dessen Ergreifung.
Wirtschaftliche Interdependenz
Mehrmals haben die Amerikaner in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen, wie überragend ihre Führungsrolle ist. Bei den Luftangriffen auf Libyen im Jahr 2011 spielten britische und französische Kampfjets zwar die Hauptrolle, doch ohne Beteiligung der USA wäre der Einsatz kaum möglich gewesen. Den Europäern fehlte wichtiges militärisches Gerät wie moderne Aufklärungs- und Tankflugzeuge. Ohne den amerikanischen Schutzschild müssten die Europäer viele dieser Waffen für teures Geld anschaffen.
Fast noch wichtiger als Jets und Raketen ist der politische Wille, diese auch einzusetzen – auch hier haben sich die Europäer sehr lang auf die Amerikaner verlassen. Gerade Staaten wie Deutschland zögern immer wieder, die eigenen Soldaten auf Kampfmissionen nach Syrien oder in andere Krisengebiete zu schicken.
Außerhalb der Sicherheitspolitik sind die Abhängigkeiten Europas von den USA weniger ausgeprägt. Amerika ist zwar mit einem Anteil von knapp 21 Prozent der wichtigste Abnehmer von Exporten aus der EU, wobei die Europäer den USA wesentlich mehr Güter liefern, als sie von dort beziehen – was von Trump heftig beklagt wird.
Umgekehrt ist die EU allerdings auch die wichtigste Zielregion amerikanischer Exporte. Auch sind die Ungleichgewichte im transatlantischen Handel nicht das Hauptproblem der USA: Das von Trump immer wieder kritisierte Außenhandelsdefizit der USA ist im Handelsaustausch mit China mehr als doppelt so hoch wie bei Importen und Exporten mit der EU.
Kulturelle Leitfunktion
Unbestritten ist dagegen die übermächtige kulturelle Leitfunktion der USA. Die westliche Lebensart wird seit dem Zweiten Weltkrieg entscheidend von amerikanischen Idealen und Produkten – von HollywoodFilmen über Kaugummi bis zu Smartphones – geprägt. US-Fernsehserien haben eine globale Fangemeinde, Schauspieler von Humphrey Bogart bis Johnny Depp werden auf der ganzen Welt angehimmelt, US-Popstars dominieren die Hitparaden überall. Anglizismen im Deutschen und in anderen Sprachen reflektieren, dass Amerika für viele immer noch „cool“ist.
Als weniger cool gälte wohl eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben, die Europa erst recht anstreben müsste, wenn es sein Schicksal tatsächlich mehr in die eigene Hand nähme.