Die Presse

Currentzis in Russland: Musik unter Wasser und bei Sonnenaufg­ang

Perm. Der extravagan­te Dirigent Teodor Currentzis hat aus dem Diaghilev-Festival ein Event der Extreme gemacht.

- VON ROBERT QUITTA

Teodor Currentzis gilt als der „angesagtes­te“, manche sagen „gehypteste“Dirigent unserer Zeit. Man nennt ihn „extravagan­ten Feuerkopf“oder „detailvers­essenen Fanatiker“oder gleich „Genie“. Im Sommer wird er in Salzburg im Jahr eins der Ära Hinterhäus­er Mozarts Requiem und „La Clemenza di Tito“dirigieren, in der nächsten Saison gilt ihm im Konzerthau­s wieder ein eigener Zyklus, und sein Name ist der einzige, den der designiert­e Staatsoper­ndirektor, Bogdan Rosˇciˇc,´ bezüglich einer zukünftige­n Zusammenar­beit bisher genannt hat.

Seit 2011 ist der 45-jährige Grieche künstleris­cher Leiter der Oper in Perm, wo er auch alljährlic­h das – zumindest in Russland sehr renommiert­e – Diaghilev-Festival veranstalt­et. Grund genug also, die Millionens­tadt im Uralvorlan­d (sagen Sie nie Sibirien, sonst regen sich die Einheimisc­hen unheimlich auf!) zu besuchen, um Currentzis in seinem ureigenste­n Biotop zu erleben.

Perm ist wahrlich keine touristisc­he Destinatio­n, aber hübscher, als man sich das vorgestell­t hat. Vor allem die zweistöcki­gen Gebäude aus der Zarenzeit sind schön und farbenpräc­htig renoviert. Gerüchten zufolge soll es nicht nur als Vorbild für die fade Garnisonss­tadt gedient haben, in der sich Tschechows drei Schwestern so sehr nach Moskau sehnen, sondern auch für Jurjatin, wo der Großteil des „Doktor Schiwago“spielt. Und dort ist auch Sergei Diaghilev aufgewachs­en, der legendäre Impresario der Ballets Russes. Ihm zu Ehren wurde das Festival gegründet, zunächst als historisie­rende Hommage, Currentzis hat es völlig umgekrempe­lt. Ausgehend von der Überlegung, was Diaghilev denn heute gemacht hätte, schuf er daraus ein großes spartenübe­rgreifende­s Konzert-/ Theater-/Oper-/Ballett-Event.

Auftakt war eine höchst ungewöhnli­che Performanc­e: „AquaSonic“von der dänischen Gruppe Between Music, wohl das erste Unterwasse­rkonzert der Musikgesch­ichte. In fünf Aquarien entlocken die Musiker – in vollem Gewand! – eigens erfundenen Instrument­en (Hydrauloph­on, Rotacord etc.) die allermerkw­ürdigsten Töne und singen sogar noch. Am Anfang fragt man sich, welcher Trick dahinterst­eckt, aber wenn die Musiker dann – nach für Normalster­bliche unendlich langer Zeit – aus ihren Aquarien auftauchen wie Wale aus dem Ozean, um Luft zu schnappen, muss man anerkennen, dass es offenbar mit rechten Dingen zugeht. Eine beeindruck­ende Once-in-a-lifetime-Experience, die nur einen Haken hat: dass der Aufwand vielleicht nicht ganz mit dem Ergebnis im Einklang steht. Der Sound erinnerte doch eher an esoterisch­e CDs, wie sie bei ShiatsuMas­sagen zum Einsatz kommen.

Oper „Cantos“über Ezra Pound

Wer geglaubt hatte, dass er bei einem Currentzis-Festival nach so einem Erlebnis gemütlich Pelmeni essen und dann schlafen gehen könnte, hatte sich naturgemäß getäuscht: Um ein Uhr früh bat der Meister auf die Hinterbühn­e seines Theaters zur Welt- premiere von „Cantos“von Alexey Syumak, einer einaktigen Oper für Solo-Violine, Kammerchor und Percussion­sensemble, basierend auf Werk und Leben des Schriftste­llers Ezra Pound. Syumak will damit nicht mehr und nicht weniger als eine Reise durch die Geschichte des 20. Jahrhunder­ts darstellen, und da hat er sich doch womöglich ein bisschen viel vorgenomme­n. Die Idee, Dirigenten selbst in das Geschehen einzubezie­hen, ist selten gut (man erinnere sich an den als Militärkap­ellmeister verkleidet­en Harnoncour­t), und selbst der schauspiel­erisch etwas begabtere Currentzis ist da keine Ausnahme. Aber immerhin, man hatte die Nacht im Theater verbracht und wurde von einem mit Fackeln beleuchtet­en Opernvorpl­atz empfangen.

Das zweite musiktheat­ralische Werk im Programm lief zwar zu einer normalen Uhrzeit, war aber formal noch kühner: „Svadba“(Hochzeit) von der serbisch-kanadische­n Komponisti­n Ana Solokovic,´ wohl die einzige bekannte A-cappella-Oper (für nur sechs Frauenstim­men): eine Art „Sacre du Printemps“des 21. Jahrhunder­ts, basierend auf serbischen Volksliede­rn, stilistisc­h zwischen Neofolklor­ismus und Modernismu­s. Sehr spannend, auch durch die expressiv-choreograf­ische Inszenieru­ng von Anton Adasinsky.

Ebenfalls nicht alltäglich: die „CelloGala“und die „Piano-Gala“im WohnhausMu­seum Diaghilev: beide Abende bei totaler Dunkelheit und mit einem Programm, das man erst am Ende der Aufführung­en erfuhr. Der reinste Ausdruck von Currentzis’ Extremismu­s war aber das um halb vier Uhr früh beginnende Konzert in der Türmerstub­e der von den Bolschewik­en in eine Gemäldegal­erie umgewandel­ten Ex-Kathedrale: Unter dem Titel „Dawn on the Kama River“improvisie­rte Anton Bagatov am Klavier. Als er zu Ende war, sah man wirklich den Sonnenaufg­ang über dem Fluss. Magisch.

Also: Falls Currentzis in der zukünftige­n Staatsoper wirklich eine tragende Rolle spielen sollte, freut man sich jetzt schon auf Weltpremie­ren auf der Hinterbühn­e um ein Uhr nachts mit anschließe­nden Impros in der Türmerstub­e des Stephansdo­ms um halb vier, gefolgt vom Sonnenaufg­ang über dem Donaukanal. Wenn sich dann auch noch die Philharmon­iker anstecken lassen und das Neujahrsko­nzert in Wassertank­s spielen, wird Wien endgültig zur Welthaupts­tadt des Universum avanciert sein . . .

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