Currentzis in Russland: Musik unter Wasser und bei Sonnenaufgang
Perm. Der extravagante Dirigent Teodor Currentzis hat aus dem Diaghilev-Festival ein Event der Extreme gemacht.
Teodor Currentzis gilt als der „angesagteste“, manche sagen „gehypteste“Dirigent unserer Zeit. Man nennt ihn „extravaganten Feuerkopf“oder „detailversessenen Fanatiker“oder gleich „Genie“. Im Sommer wird er in Salzburg im Jahr eins der Ära Hinterhäuser Mozarts Requiem und „La Clemenza di Tito“dirigieren, in der nächsten Saison gilt ihm im Konzerthaus wieder ein eigener Zyklus, und sein Name ist der einzige, den der designierte Staatsoperndirektor, Bogdan Rosˇciˇc,´ bezüglich einer zukünftigen Zusammenarbeit bisher genannt hat.
Seit 2011 ist der 45-jährige Grieche künstlerischer Leiter der Oper in Perm, wo er auch alljährlich das – zumindest in Russland sehr renommierte – Diaghilev-Festival veranstaltet. Grund genug also, die Millionenstadt im Uralvorland (sagen Sie nie Sibirien, sonst regen sich die Einheimischen unheimlich auf!) zu besuchen, um Currentzis in seinem ureigensten Biotop zu erleben.
Perm ist wahrlich keine touristische Destination, aber hübscher, als man sich das vorgestellt hat. Vor allem die zweistöckigen Gebäude aus der Zarenzeit sind schön und farbenprächtig renoviert. Gerüchten zufolge soll es nicht nur als Vorbild für die fade Garnisonsstadt gedient haben, in der sich Tschechows drei Schwestern so sehr nach Moskau sehnen, sondern auch für Jurjatin, wo der Großteil des „Doktor Schiwago“spielt. Und dort ist auch Sergei Diaghilev aufgewachsen, der legendäre Impresario der Ballets Russes. Ihm zu Ehren wurde das Festival gegründet, zunächst als historisierende Hommage, Currentzis hat es völlig umgekrempelt. Ausgehend von der Überlegung, was Diaghilev denn heute gemacht hätte, schuf er daraus ein großes spartenübergreifendes Konzert-/ Theater-/Oper-/Ballett-Event.
Auftakt war eine höchst ungewöhnliche Performance: „AquaSonic“von der dänischen Gruppe Between Music, wohl das erste Unterwasserkonzert der Musikgeschichte. In fünf Aquarien entlocken die Musiker – in vollem Gewand! – eigens erfundenen Instrumenten (Hydraulophon, Rotacord etc.) die allermerkwürdigsten Töne und singen sogar noch. Am Anfang fragt man sich, welcher Trick dahintersteckt, aber wenn die Musiker dann – nach für Normalsterbliche unendlich langer Zeit – aus ihren Aquarien auftauchen wie Wale aus dem Ozean, um Luft zu schnappen, muss man anerkennen, dass es offenbar mit rechten Dingen zugeht. Eine beeindruckende Once-in-a-lifetime-Experience, die nur einen Haken hat: dass der Aufwand vielleicht nicht ganz mit dem Ergebnis im Einklang steht. Der Sound erinnerte doch eher an esoterische CDs, wie sie bei ShiatsuMassagen zum Einsatz kommen.
Oper „Cantos“über Ezra Pound
Wer geglaubt hatte, dass er bei einem Currentzis-Festival nach so einem Erlebnis gemütlich Pelmeni essen und dann schlafen gehen könnte, hatte sich naturgemäß getäuscht: Um ein Uhr früh bat der Meister auf die Hinterbühne seines Theaters zur Welt- premiere von „Cantos“von Alexey Syumak, einer einaktigen Oper für Solo-Violine, Kammerchor und Percussionsensemble, basierend auf Werk und Leben des Schriftstellers Ezra Pound. Syumak will damit nicht mehr und nicht weniger als eine Reise durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellen, und da hat er sich doch womöglich ein bisschen viel vorgenommen. Die Idee, Dirigenten selbst in das Geschehen einzubeziehen, ist selten gut (man erinnere sich an den als Militärkapellmeister verkleideten Harnoncourt), und selbst der schauspielerisch etwas begabtere Currentzis ist da keine Ausnahme. Aber immerhin, man hatte die Nacht im Theater verbracht und wurde von einem mit Fackeln beleuchteten Opernvorplatz empfangen.
Das zweite musiktheatralische Werk im Programm lief zwar zu einer normalen Uhrzeit, war aber formal noch kühner: „Svadba“(Hochzeit) von der serbisch-kanadischen Komponistin Ana Solokovic,´ wohl die einzige bekannte A-cappella-Oper (für nur sechs Frauenstimmen): eine Art „Sacre du Printemps“des 21. Jahrhunderts, basierend auf serbischen Volksliedern, stilistisch zwischen Neofolklorismus und Modernismus. Sehr spannend, auch durch die expressiv-choreografische Inszenierung von Anton Adasinsky.
Ebenfalls nicht alltäglich: die „CelloGala“und die „Piano-Gala“im WohnhausMuseum Diaghilev: beide Abende bei totaler Dunkelheit und mit einem Programm, das man erst am Ende der Aufführungen erfuhr. Der reinste Ausdruck von Currentzis’ Extremismus war aber das um halb vier Uhr früh beginnende Konzert in der Türmerstube der von den Bolschewiken in eine Gemäldegalerie umgewandelten Ex-Kathedrale: Unter dem Titel „Dawn on the Kama River“improvisierte Anton Bagatov am Klavier. Als er zu Ende war, sah man wirklich den Sonnenaufgang über dem Fluss. Magisch.
Also: Falls Currentzis in der zukünftigen Staatsoper wirklich eine tragende Rolle spielen sollte, freut man sich jetzt schon auf Weltpremieren auf der Hinterbühne um ein Uhr nachts mit anschließenden Impros in der Türmerstube des Stephansdoms um halb vier, gefolgt vom Sonnenaufgang über dem Donaukanal. Wenn sich dann auch noch die Philharmoniker anstecken lassen und das Neujahrskonzert in Wassertanks spielen, wird Wien endgültig zur Welthauptstadt des Universum avanciert sein . . .