Tories und Labour entdecken Marx
Großbritannien. In der heißen Phase des Parlamentswahlkampfs rückt ausgerechnet ein politisch Untoter in den Mittelpunkt des Werbens: der britische Arbeiter.
London. Die letzten Umfragewerte sehen für die britische Premierministerin, Theresa May, keineswegs mehr so rosig aus wie zu Beginn des Wahlkampfs. Eine Woche vor der Parlamentswahl am 8. Juni ist der Vorsprung der regierenden Konservativen auf die oppositionelle Labour Party in einzelnen Befragungen auf nur mehr fünf Punkte geschrumpft. Umso härter wird nach Wiederaufnahme der Kampagne, die nach dem Terroranschlag von Manchester suspendiert war, um jede Stimme gekämpft (siehe unten, Artikel über TV-Debatte).
Dabei buhlen beide Großparteien insbesondere um eine Klasse, die man vor wenigen Jahren noch für politisch passe´ erklärt hatte: Die Arbeiterschaft wird dieser Tage besonders heftig von Mays Konservativen umworben, die ihrer Partei ins Wahlprogramm die Aussagen diktierte: „Wir glauben nicht an uneingeschränkte Märkte. Wir lehnen den Kult des selbstsüchtigen Individualismus ab. Wir verabscheuen soziale Spaltung, Ungerechtigkeit und Ungleichheit.“
Angesichts dieser Ansage des Klassenkampfs von rechts musste sich Labour-Chef Jeremy Corbyn schon mächtig anstrengen, um mithalten zu können: „Wir nehmen es nicht hin, dass es normal für Großbritannien sein soll, von einer herrschenden Elite regiert zu werden, den Finanzmärkten und den Steuerflüchtlingen, und wir akzeptieren es nicht, dass sich das britische Volk mit dem zufriedengeben muss, was ihm gegeben wird, während es Besseres verdient hat.“
May will Bahn verstaatlichen
Beide Seiten wollen den stürmischen Worten auch konkrete Taten folgen lassen. May versprach: „Ich bin entschlossen, die Lebenskosten der einfachen Arbeiterfamilien zu reduzieren, die Steuern niedrig zu halten und dort einzugreifen, wo die Märkte nicht ordentlich funktionieren.“Ihr Ziel sei es, „das Wirtschaftswachstum zu sichern und die Erträge gerecht zu verteilen.“
Bereits bei ihrem Amtsantritt im Juli 2016 hatte May in ihrer ersten Rede erklärt, sie strebe nach „einer Gesellschaft, die allen Nutzen bringt“. Ihr damaliges Schlagwort „Für die Vielen, nicht für die Wenigen“ist bezeichnenderweise jetzt Wahlkampfslogan der Labour Party. Ihr Wahlprogramm knüpft direkt an die 1980er-Jahre an und verspricht unter anderem eine Wiederverstaatlichung von Bahn, Post und Wasserversorgern. Mit neuen Spitzensteuersätzen sollen 50 Milliarden Pfund an Neuinvestitionen – vor allem in Bildung und Gesundheit – finanziert werden, während die Studiengebühren abgeschafft werden sollen.
Diese Forderungen sind überraschend populär, als hätte es in Großbritannien keinen Thatcherismus und keine New Labour gegeben. Oder vielleicht sind sie es gerade deshalb. May lässt sich wenig in die Karten blicken. Aber sie gehört zu jenen Politikern, die aus dem Brexit-Votum im Juni 2016 zwei Schlüsse gezogen haben: Als Ursache für das Nein zur EU sieht sie die Masseneinwanderung und die Entstehung einer Gesellschaft, in der zu viele Menschen zurückbleiben und darum kämpfen müssen, „gerade noch zurechtzukommen“, wie sie regelmäßig beklagt: „Ihr Leben ist hart, und sie müssen sich permanent Sorgen um Job und Familie machen.“
Diesen Wählern verspricht May nun unter anderem, dass auch nach dem Brexit alle EU-Arbeitnehmerschutzbestimmungen in Kraft bleiben werden. „Ich will, dass der EU-Austritt den Arbeitern zugutekommt“, versprach sie gestern in der Labour-Hochburg Wolverhampton. Das Recht auf Kinder- oder Krankenkarenz soll auf bis zu ein Jahr ausgeweitet werden. Auf Betriebsebene sollen die Mitspracherechte der Arbeitnehmer gestärkt werden, eine Position, die unter den Konservativen vor Kurzem noch als reiner Bolschewismus galt.
Brutales Erwachen nach 2008
Damit signalisiert die Regierungschefin einen Paradigmenwechsel. Spätestens seit der Zerschlagung der Gewerkschaften in den 1980erJahren war der britische Arbeiter aus dem politischen Diskurs verschwunden gewesen. Linke (New Labour) wie Rechte (Tories) hatten nachfolgend die „aufstrebenden Wähler“in den Mittelpunkt ihres Werbens gestellt. Mit der Masseneinwanderung ab den 2000er-Jahren konnte man die manuelle Arbeit billigen Arbeitskräften aus Osteuropa überlassen, während sich der Brite an scheinbar immer steigenden Hauspreisen erfreuen durfte, die wiederum Wachstum auf Kreditbasis finanzierten.
Der Crash von 2008 brachte ein brutales Erwachen. Dabei geht es weniger um Arbeitslosigkeit: Großbritannien hat praktisch Vollbeschäftigung. Aber die Mehrheit hat bis heute nicht wieder das Lohnniveau erreicht, das sie vor zehn Jahren genoss, und sie fühlt sich kulturell ausgeschlossen von den Segnungen des Liberalismus und der Globalisierung.
Während in der Arbeiterklasse das Gefühl des Ausgeschlossenseins herrscht, ist in der Mittelklasse die größte Befürchtung, das Erreichte nicht erhalten zu können. Diese Wähler stimmten vor einem Jahr für den Brexit. Heute schreibt selbst der „Economist“, die Bibel der Wirtschaftsliberalen: „Es gibt eine enorme Menge zu lernen von Karl Marx. Vieles von dem, was er sagte, scheint jeden Tag aktueller zu werden.“Seine Lehren gehören aber längst nicht mehr der Linken.