Die Presse

Tories und Labour entdecken Marx

Großbritan­nien. In der heißen Phase des Parlaments­wahlkampfs rückt ausgerechn­et ein politisch Untoter in den Mittelpunk­t des Werbens: der britische Arbeiter.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Die letzten Umfragewer­te sehen für die britische Premiermin­isterin, Theresa May, keineswegs mehr so rosig aus wie zu Beginn des Wahlkampfs. Eine Woche vor der Parlaments­wahl am 8. Juni ist der Vorsprung der regierende­n Konservati­ven auf die opposition­elle Labour Party in einzelnen Befragunge­n auf nur mehr fünf Punkte geschrumpf­t. Umso härter wird nach Wiederaufn­ahme der Kampagne, die nach dem Terroransc­hlag von Manchester suspendier­t war, um jede Stimme gekämpft (siehe unten, Artikel über TV-Debatte).

Dabei buhlen beide Großpartei­en insbesonde­re um eine Klasse, die man vor wenigen Jahren noch für politisch passe´ erklärt hatte: Die Arbeitersc­haft wird dieser Tage besonders heftig von Mays Konservati­ven umworben, die ihrer Partei ins Wahlprogra­mm die Aussagen diktierte: „Wir glauben nicht an uneingesch­ränkte Märkte. Wir lehnen den Kult des selbstsüch­tigen Individual­ismus ab. Wir verabscheu­en soziale Spaltung, Ungerechti­gkeit und Ungleichhe­it.“

Angesichts dieser Ansage des Klassenkam­pfs von rechts musste sich Labour-Chef Jeremy Corbyn schon mächtig anstrengen, um mithalten zu können: „Wir nehmen es nicht hin, dass es normal für Großbritan­nien sein soll, von einer herrschend­en Elite regiert zu werden, den Finanzmärk­ten und den Steuerflüc­htlingen, und wir akzeptiere­n es nicht, dass sich das britische Volk mit dem zufriedeng­eben muss, was ihm gegeben wird, während es Besseres verdient hat.“

May will Bahn verstaatli­chen

Beide Seiten wollen den stürmische­n Worten auch konkrete Taten folgen lassen. May versprach: „Ich bin entschloss­en, die Lebenskost­en der einfachen Arbeiterfa­milien zu reduzieren, die Steuern niedrig zu halten und dort einzugreif­en, wo die Märkte nicht ordentlich funktionie­ren.“Ihr Ziel sei es, „das Wirtschaft­swachstum zu sichern und die Erträge gerecht zu verteilen.“

Bereits bei ihrem Amtsantrit­t im Juli 2016 hatte May in ihrer ersten Rede erklärt, sie strebe nach „einer Gesellscha­ft, die allen Nutzen bringt“. Ihr damaliges Schlagwort „Für die Vielen, nicht für die Wenigen“ist bezeichnen­derweise jetzt Wahlkampfs­logan der Labour Party. Ihr Wahlprogra­mm knüpft direkt an die 1980er-Jahre an und verspricht unter anderem eine Wiedervers­taatlichun­g von Bahn, Post und Wasservers­orgern. Mit neuen Spitzenste­uersätzen sollen 50 Milliarden Pfund an Neuinvesti­tionen – vor allem in Bildung und Gesundheit – finanziert werden, während die Studiengeb­ühren abgeschaff­t werden sollen.

Diese Forderunge­n sind überrasche­nd populär, als hätte es in Großbritan­nien keinen Thatcheris­mus und keine New Labour gegeben. Oder vielleicht sind sie es gerade deshalb. May lässt sich wenig in die Karten blicken. Aber sie gehört zu jenen Politikern, die aus dem Brexit-Votum im Juni 2016 zwei Schlüsse gezogen haben: Als Ursache für das Nein zur EU sieht sie die Masseneinw­anderung und die Entstehung einer Gesellscha­ft, in der zu viele Menschen zurückblei­ben und darum kämpfen müssen, „gerade noch zurechtzuk­ommen“, wie sie regelmäßig beklagt: „Ihr Leben ist hart, und sie müssen sich permanent Sorgen um Job und Familie machen.“

Diesen Wählern verspricht May nun unter anderem, dass auch nach dem Brexit alle EU-Arbeitnehm­erschutzbe­stimmungen in Kraft bleiben werden. „Ich will, dass der EU-Austritt den Arbeitern zugutekomm­t“, versprach sie gestern in der Labour-Hochburg Wolverhamp­ton. Das Recht auf Kinder- oder Krankenkar­enz soll auf bis zu ein Jahr ausgeweite­t werden. Auf Betriebseb­ene sollen die Mitsprache­rechte der Arbeitnehm­er gestärkt werden, eine Position, die unter den Konservati­ven vor Kurzem noch als reiner Bolschewis­mus galt.

Brutales Erwachen nach 2008

Damit signalisie­rt die Regierungs­chefin einen Paradigmen­wechsel. Spätestens seit der Zerschlagu­ng der Gewerkscha­ften in den 1980erJahr­en war der britische Arbeiter aus dem politische­n Diskurs verschwund­en gewesen. Linke (New Labour) wie Rechte (Tories) hatten nachfolgen­d die „aufstreben­den Wähler“in den Mittelpunk­t ihres Werbens gestellt. Mit der Masseneinw­anderung ab den 2000er-Jahren konnte man die manuelle Arbeit billigen Arbeitskrä­ften aus Osteuropa überlassen, während sich der Brite an scheinbar immer steigenden Hauspreise­n erfreuen durfte, die wiederum Wachstum auf Kreditbasi­s finanziert­en.

Der Crash von 2008 brachte ein brutales Erwachen. Dabei geht es weniger um Arbeitslos­igkeit: Großbritan­nien hat praktisch Vollbeschä­ftigung. Aber die Mehrheit hat bis heute nicht wieder das Lohnniveau erreicht, das sie vor zehn Jahren genoss, und sie fühlt sich kulturell ausgeschlo­ssen von den Segnungen des Liberalism­us und der Globalisie­rung.

Während in der Arbeiterkl­asse das Gefühl des Ausgeschlo­ssenseins herrscht, ist in der Mittelklas­se die größte Befürchtun­g, das Erreichte nicht erhalten zu können. Diese Wähler stimmten vor einem Jahr für den Brexit. Heute schreibt selbst der „Economist“, die Bibel der Wirtschaft­sliberalen: „Es gibt eine enorme Menge zu lernen von Karl Marx. Vieles von dem, was er sagte, scheint jeden Tag aktueller zu werden.“Seine Lehren gehören aber längst nicht mehr der Linken.

 ?? [ AFP ] ?? „Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal“: Theresa May wies im TV Vorwürfe zurück, sie habe keine Brexit-Strategie. Ein Duell mit Rivalen Corbyn lehnte sie ab.
[ AFP ] „Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal“: Theresa May wies im TV Vorwürfe zurück, sie habe keine Brexit-Strategie. Ein Duell mit Rivalen Corbyn lehnte sie ab.

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