Brasilien sucht Alternative zu Präsident Temer
Korruptionsskandal. Trotz allen belastenden Materials scheint der angeschlagene Staatschef seine Position zu festigen – mangels eines geeigneten Nachfolgers.
Bras´ılia/Buenos Aires. Der Palacio´ do Planalto ist ein Klassiker der modernen Architektur. Mit seiner vierstöckigen Glasfassade unter einem überbreiten Flachdach ist der Amtssitz von Brasiliens Präsidenten seit bald sechs Jahrzehnten ein gebautes Postulat für Transparenz an der Staatsspitze. Doch leider hat sich der Inhalt nur selten der Form angepasst. Der aktuelle Insasse macht den „Palast auf der Hochebene“derzeit zur Trutzburg. Er will den Kräften widerstehen, die ihn aus dem Amt fegen wollen wie vor Jahresfrist seine Vorgängerin und einstige Chefin Dilma Rousseff.
Obwohl der Verdacht gegen Temer wesentlich schwerer wiegt als jener gegen Rousseff vor einem Jahr, sind Temers Chancen, im Amt zu bleiben, deutlich höher. Denn sein bester Verbündeter ist die Ungewissheit. Niemand hat bisher eine klare Vision, was folgen könnte, wenn der zweite Präsident binnen 13 Monaten fiele.
Skandalöse Enthüllungen
Bis Mitte Mai schien es, als habe die unpopuläre Regierung Temers mit ihren noch unpopuläreren Sparpaketen die seit Mitte 2014 wütende Rezession bremsen können. Die Zinsen fielen, die Inflation lag mit etwa 4 Prozent unter der kritischen Marke von 4,5. Doch dann platzte eine politische Bombe mit genug Sprengkraft, um das gesamte politische Bras´ılia von der Hochebene zu blasen.
Am 17. Mai wurde bekannt, dass der Boss des weltgrößten Fleischkonzerns JBS sich der Justiz als Kronzeuge zur Verfügung gestellt und dabei schwer belastendes Beweismaterial gegen Temer und auch den Chef der Sozialdemokraten, Aecio´ Neves, ausgehändigt hatte. Auf einer Audiodatei ist Temer zu hören, wie dieser die Zahlung von Schweigegeld an einen inhaftierten Parteifreund gutheißt. Außerdem signalisiert Temer Zustimmung, als der Fleischbaron angibt, zwei Richter und einen Staatsanwalt bestochen zu haben. Nachdem der Mittschnitt in die Öffentlichkeit kam, bestritt Temer dessen Authentizität und verweigerte einen Rücktritt. „Sollen sie mich doch stür- zen, wenn sie unbedingt wollen“, sagte Temer der Zeitung „Folha de Sao˜ Paulo“.
Vorigen Donnerstag wechselte Temer den Justizminister. Torquato Jardim ist ein erfahrenerer Anwalt und soll offenbar die Verteidigung Temers von Regierungsseite aus übernehmen.
„Bei Neuwahlen droht Chaos“
Es gilt mehrere Fronten zu bearbeiten: Einerseits müssen sie versuchen, den Strafprozess gegen Temer am obersten Gerichtshof wegen Korruption und Justizbehinderung hinauszuzögern. Und andererseits müssten Sie danach trachten, dass das obersten Wahlgericht kommende Woche nicht die gesamte Wahl 2014 für ungültig erklärt. Gründe dafür gäbe es zu Hauf: Mehrere Kronzeugen bestätigten illegale Wahlkampffinanzierung sowohl für die gewählte Dilma Rousseff wie auch deren Vize Temer. Für Dienstag bis Donnerstag folgender Woche hat das Wahlgericht vier entscheidende Sitzungen anberaumt.
Während die Medien nun über die möglichen Positionen der sieben Richter spekulieren, kann Temer mitverfolgen, wie sich das Land bei der Suche nach einem Nachfolger aufreibt. In den Couloirs von Kongress und Senat, aber auch in einer Elefantenrunde diverser Ex-Präsidenten wurde nach einem Temer ohne Tadel gefahndet, aber bisher stieg kein weißer Rauch auf.
Anfänglich sprachen viele von einer Rückkehr Fernando Henrique Cardosos, der Brasilien on den 1990er Jahren auf die Füße stellte. Doch der respektierte Soziologe ist mit 85 zu alt für eine neue Runde als Herkules. Ein anderer klingender Name ist der von Henrique Meirelles, dem aktuellen Finanzminister, der zuvor acht Jahre Lula als Zentralbankchef zuarbeitete. Er ist die treibende Kraft hinter Temers Reformpaket und Favorit von Finanzsektor und Industrie. Gegen ihn läuft bislang keine Korruptionsermittlung, aber Meirelles leitete zwischen 2012 und 2016 den Aufsichtsrat der Holding J&F. Und die gehört ausgerechnet zum Imperium der korrupten Fleischbarone Batista, die Temer hochgehen ließen.
Im April, noch vor dem Auftauchen der Audiodatei, sagte der Südamerika-Chef eines deutschen Dax-Konzerns gegenüber der „Presse“: „In Regierung und Parlament sitzen viele Gangster, die hoffentlich alle im Gefängnis enden werden. Aber bitte nicht sofort. Wir brauchen mindestens bis Ende nächsten Jahres, um hier neues Personal zu finden. Wenn jetzt neu gewählt werden müsste, droht das totales Chaos.“Dass ein Großteil der brasilianischen Wirtschaft so denkt, ist Temers beste Rückversicherung.