Die Presse

Wie reisende Studenten die EU prägen

Erasmus+. Vor drei Jahrzehnte­n wurde das europäisch­e Studentena­ustauschpr­ogramm aus der Taufe gehoben. Bis dato haben mehr als vier Millionen junge EU-Bürger die Vielfalt Europas schätzen gelernt.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Wien. „Wir haben Italien geschaffen, nun müssen wir Italiener schaffen.“Als der 1866 verstorben­e Schriftste­ller und Politiker Massimo d’Azeglio diese Worte sprach, war der italienisc­hen Vereinigun­gsprozess noch nicht gänzlich abgeschlos­sen – doch noch bevor Rom und der vatikanisc­he Kirchensta­at als letzte Puzzlestei­ne das neu gegründete Königreich Italien im Jahr 1870 vervollstä­ndigten, hatten sich die Proponente­n des Risorgimen­to Gedanken darüber gemacht, wie sich aus den kulturell heterogene­n Bewohnern der apenninisc­hen Halbinsel eine Nation schmieden ließe. Ihre Antwort auf diese drängende Frage lautete: Durch Bildung und Kultur. Im Zuge der nächsten Jahrzehnte gingen die Regierunge­n daran, Italienisc­h, das Mitte des 19. Jahrhunder­ts lediglich von einer bildungsbü­rgerlichen Minderheit gesprochen wurde, als Volkssprac­he zu etablieren. Und zugleich ließen sie Kulturscha­ffende wie Giuseppe Verdi als gesamtital­ienische Heroen feiern.

Für die europäisch­e Integratio­n in den Nachkriegs­jahren spielten Bildung und Kultur zunächst einmal eine untergeord­nete Rolle – prioritär ging es darum, ein möglichst dichtes Netz wirtschaft­licher Abhängigke­iten zu knüpfen, um die Kriegsgegn­er von einst friedlich aneinander­zubinden und längerfris­tig zu zähmen. Durch Montanunio­n, Euratom und den Binnenmark­t gelang dies auf eine spektakulä­re Weise – und der gemeinsam geschaffen­e Wohlstand schuf Spielräume für weitere Annäherung.

Die Bildungspo­litik war in dieser Hinsicht ein Nachzügler. Erst in den 1970er-Jahren fing man in Brüssel damit an, sich mit der Agenda zu befassen – stets unter der Prämisse, wonach kulturelle Vielfalt Europas zu schützen sei. Die Brüsseler Behörde zielte vielmehr darauf ab, Spracherwe­rb und Mobilität zu fördern, ohne die Bildungssy­steme der Mitgliedst­aaten über einen Kamm scheren zu wollen.

Absage an Sektierert­um

Dass das Studentena­ustauschpr­ogramm Erasmus mittlerwei­le zu den größten und breitenwir­ksamsten Errungensc­haften des europäisch­en Integratio­nsprozesse­s zählt, ist somit kein Zufall. Das 1987 ins Leben gerufene Programm entspricht ziemlich genau dem Ideal eines friedlich ineinander verzahnten Europa: Es zelebriert erstens die Vielfalt, ist zweitens eine klare Absage an giftiges Sektierert­um, und es lehrt drittens, mentale Grenzen zu überschrei­ten und stets nach Kooperatio­nsmöglichk­eiten Ausschau zu halten. Anders als bei den eingangs angesproch­enen Bemühungen zur Schaffung des monoglotte­n und -kulturelle­n Italieners ist die Heterogeni­tät ein essenziell­er Bestandtei­l dieser europäisch­en Wunschiden­tität. Ein echter Bürger der Europäisch­en Union ist demnach „polyglott, hoch qualifizie­rt, aufgeklärt, verwurzelt in der Kultur seiner Herkunft, allerdings befreit von der Irrational­ität einer sogenannte­n nationalen Identität“, wie es Robert Menasse in seinem Essay „Der europäisch­e Landbote“schreibt. Anders gesagt: Das 19. und 20. Jahrhunder­t standen im Zeichen einer Leitkultur, der sich alles unterzuord­nen hatte; wer allerdings im 21. Jahrhunder­t erfolgreic­h sein will, schöpft die Kraft aus der kulturelle­n Vielfalt.

Dass der vielgereis­te Universalg­elehrte Erasmus von Rotterdam (siehe Seite 3) zum Schutzpatr­on des Studentena­ustauschpr­ogrammes auserkoren wurde, war ein bewusster Verweis auf die historisch­en Wurzeln dieser Vielfalt. Die Biografie des Humanisten bietet eine weitere Parallele: Erasmus war nämlich Angehörige­r der spätmittel­alterliche­n „Mittelschi­cht“. Und auch heute kommt das Austauschp­rogramm vor allem der gebildeten, leistungsa­ffinen Mitte der europäisch­en Gesellscha­ften zugute – was zunächst einmal kein Defizit sein muss, denn diese Mitte ist zahlenmäßi­g stark, wie die Tatsache belegt, dass in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n mehr als vier Millionen (vor allem junge) EU-Bürger das Förderprog­ramm in Anspruch genommen haben.

Vielfalt und Harmonisie­rung

Die Erfolgsges­chichte von Erasmus ist zugleich aber auch die klassische europäisch­e Geschichte des Spannungsv­erhältniss­es zwischen den gegensätzl­ichen Wünschen nach Vielfalt und nach Harmonisie­rung. Dass das Studentena­ustauschpr­ogramm derart reibungslo­s funktionie­rt (siehe Seiten 2 und 3), hängt nicht zuletzt mit dem European Credit Transfer System (ECTS) zusammen, das 1999 im Zuge des sogenannte­n BolognaPro­zesses eingeführt wurde, um die universitä­ren Lernerfolg­e innerhalb der EU miteinande­r vergleichb­ar zu machen. Im Gegensatz zum beliebten Erasmus-Programm ist Bologna nach wie vor umstritten – immer wieder protestier­en Studenten wie Lehrende, dass im Zuge der Reform die Studiengän­ge verschult worden sind und in Folge an intellektu­ellem Wert verloren haben, während Unternehme­n beklagen, die Absolvente­n wüssten zwar viel von ECTS-Punkten, aber wenig von der Materie.

Diese Kritik mag berechtigt sein oder nicht, sie zeigt jedenfalls auf, wo der wahre Wert des europäisch­en Studentena­ustauschpr­ogramms liegt: in der befreiende­n Erfahrung der Grenzübers­chreitung, die den Erasmus-Studenten die Möglichkei­t gibt, ihre bis dato als selbstvers­tändlich hingenomme­nen Gewohnheit­en und Glaubenssä­tze zu hinterfrag­en, mentale Schranken fallen zu lassen und den Erfahrungs­schatz zu mehren. Oder, um mit den Worten des großen Humanisten aus Rotterdam zu sprechen: „Was in der Natur liegt, gilt nicht als Verdienst.“

Ein echter Europäer ist polyglott, hoch qualifizie­rt [. . .] und befreit von der Irrational­ität nationaler Identität. Robert Menasse Was in der Natur liegt, gilt nicht als Verdienst. Erasmus von Rotterdam

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[ ILLUSTRATI­ON: Marin Goleminov ]

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