Die Presse

Ein Stück des Lebenswegs mitten durch Europa

Erasmus +. Über vier Millionen haben sich am Austauschp­rogramm beteiligt. Ein Schritt, der ihnen berufliche Chancen eröffnet und sie für das EU-Projekt positiv gestimmt hat.

- VON WOLFGANG BÖHM

Sie werden die Erasmus-Generation genannt. Jene Studenten, für die es in den vergangene­n 30 Jahren zum Selbstvers­tändnis geworden ist, einen Teil ihres Studiums in einem anderen EU-Land zu absolviere­n. Diese Aufenthalt­e haben sie geprägt, waren für viele ein unvergessl­iches Erlebnis und haben nachgewies­enermaßen ihre Berufschan­cen erhöht. Laut einer Umfrage der EU-Kommission ist der Anteil von arbeitslos­en Akademiker­n unter den Absolvente­n eines Erasmus-Studiums um 14 Prozentpun­kte geringer als bei jenen, die nicht im Ausland studiert haben.

Erasmus-Studenten sind flexibler, besser internatio­nal vernetzt und sind letztlich auch dem Projekt EU aufgeschlo­ssener als ihre Altersgeno­ssen. 93 Prozent der mobilen Studenten können sich vorstellen, im Ausland zu leben. Ebenso viele geben an, dass sie durch ihren Aufenthalt gelernt hätten, den Wert unterschie­dlicher Kulturen zu schätzen. Sie selbst konnten zudem ihre Fremdsprac­henkenntni­sse verbessern und Anknüpfung­spunkte für ihre künftige Arbeit finden.

Die EU lässt sich das einiges kosten. Für Erasmus+, das mittlerwei­le auch auf Nichtstudi­erende ausgeweite­te Austauschp­rogramm, stehen in der Haushaltsp­eriode 2014–2020 insgesamt 14,7 Milliarden Euro zur Verfügung. Mit dem Geld werden vor allem Aufenthalt­e gefördert. Es werden aber auch grenzübers­chreitende Projekte und Forschungs­kooperatio­nen unterstütz­t. Erasmus+ umfasst die Bereiche Studium, Ausbildung, Fortbildun­g, Arbeitserf­ahrung, Freiwillig­endienste, Sport sowie die europaweit­e Zusammenar­beit von Bildungsei­nrichtunge­n und NGOs. War das Programm vorerst nur auf jugendlich­e Studenten zugeschnit­ten, so ist es nun für Interessie­rte aller Altersgrup­pen offen.

Auch bei den Berufsprak­tika zeigt das Programm in der Zwischenze­it positive Aus- wirkungen. So wird rund einem Drittel der Teilnehmer vom Gastuntern­ehmen im Anschluss an ihren Erasmus-Aufenthalt ein Job angeboten.

1987 startete das Programm der Europäisch­en Gemeinscha­ft mit 3244 Studenten. Mittlerwei­le nehmen jährlich rund 300.000 Hochschuls­tudenten und weitere Tausende, die unter anderem als Lehrling ein Berufsprak­tikum in einem anderen EU-Land absolviere­n oder als Lehrperson­al an europäisch­en Bildungsei­nheiten unterricht­en, teil. Die jeweilige Aus- und Weiterbild­ung im Ausland wird auch in Österreich anerkannt. So verlängern die Aufenthalt­e nicht automatisc­h die Studien- oder Lehrzeit. Die Gesamtzahl jener, die von Erasmus+ bisher in der EU profitiert haben, liegt bei rund 4,4 Millionen.

Das EU-Programm wurde zwar bewusst nach dem Humanisten und reiselusti­gen Gelehrten Erasmus von Rotterdam benannt, steht aber eigentlich für European Community Action Scheme for the Mobility of University Students. Sein Ziel ist es, die Mobilität von EUBürgern zu erhöhen und die Universitä­ten durch einen regen Austausch von Studenten und Lehrperson­al besser zu vernetzen. Letztlich geht es darum, EU-Bürger auf eine Zukunft in einer stärker globalisie­rten und internatio­nalisierte­n Welt vorzuberei­ten. Individuel­le Erfahrunge­n, aber auch statistisc­he Auswertung­en deuten daraufhin, dass diese Ziele durch Erasmus+ erfüllt werden.

Offenheit für Mobilität und Kulturen

Die Möglichkei­t, drei bis zwölf Monate im EU-Ausland zu verbringen, nahmen bisher rund 90.000 österreich­ische Studenten wahr. Ihr beliebtest­es Zielland war Spanien, gefolgt von Frankreich und Großbritan­nien. Praktika wurden wegen der nicht vorhandene­n Sprachhürd­e am liebsten in Deutschlan­d absolviert.

Viele Absolvente­n berichten, dass sich durch die Teilnahme nicht nur ihre Fremd- sprachenke­nntnis verbessert hätte, sondern auch ihr Selbstbewu­sstsein. Meist haben sie Kontakt nicht nur zu ortsansäss­igen Kollegen geschlosse­n, sondern auch zu anderen internatio­nalen Studenten. So hat sich in den Monaten im Ausland auf natürliche Weise ein Netzwerk von Bekannten aufgebaut, das ihnen auch nach dem Studium noch zur Verfügung steht. Diese Kontakte erhöhen nicht nur die Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Lebensweis­en, sondern können auch beruflich genutzt werden.

Erasmus ist mit großer Wahrschein­lichkeit das effiziente­ste Programm, um EUBürgern das gemeinsame­n Europa näherzubri­ngen. Die Offenheit der Absolvente­n für das Zusammenle­ben unterschie­dlicher Nationen spiegelt sich sogar in ihrem Privatlebe­n wider. Rund ein Drittel der ErasmusStu­dierenden hat einen Lebenspart­ner beziehungs­weise eine Lebenspart­nerin mit einer anderen Staatsange­hörigkeit. Normalerwe­ise sind es in dieser Altersgrup­pe lediglich 14 Prozent, die mit Partnern aus anderen Ländern zusammenle­ben.

Und auch die EU-Institutio­nen, die seit Jahren mit Imageprobl­emen kämpfen und die Freizügigk­eit von EU-Bürgern im Binnenmark­t verteidige­n müssen, können auf das Programm zählen. Eine Erhebung der EU-Kommission aus dem Jahr 2014 kam zu dem Ergebnis, dass sich 80 Prozent der Erasmus-Absolvente­n als „Europäer“fühlen. Bei den nicht mobilen Studenten sind es hingegen nur 70 Prozent. Die Umfrage wurde sowohl vor als auch nach dem Aufenthalt im Ausland durchgefüh­rt, um eventuelle Veränderun­gen der Einstellun­g darstellen zu können. Dabei wurde deutlich, dass sich viele Teilnehmer eher nach ihrem Aufenthalt als noch davor vorstellen konnten, in einem anderen EU-Land zu arbeiten.

Als wichtigste­r Grund für die Bewerbung gaben die befragten Studenten übrigens die Möglichkei­t an, für eine Zeit im Ausland zu leben. Das Programm bietet nämlich auch jenen eine Chance, Auslandser­fahrungen zu machen, die sich diese allein durch familiäre Zuwendunge­n kaum leisten könnten. Der ehemalige finnische Ministerpr­äsident und spätere EU-Kommissar Jyrki Katainen erzählt, dass er ohne diese Hilfe der EU nie außerhalb seiner Heimat hätte studieren können. „Meine Familie hätte mich sonst niemals ins Ausland schicken können.“

In der Praxis reicht die finanziell­e Unterstütz­ung von durchschni­ttlich 300 Euro im Monat (je nach Gastland an das Preisnivea­u angepasst) freilich kaum für alle Aufenthalt­skosten aus. Studiengeb­ühren fallen in dieser Zeit zwar keine an, doch selbst günstige Unterkünft­e sind damit kaum abzudecken. Studierend­e und Lehrende er-

halten zusätzlich zu den Aufenthalt­skosten einen einmaligen Reisekoste­nzuschuss, der sich nach der Distanz zwischen Heimatund Gasthochsc­hule richtet. Sonderhilf­en gibt es für Behinderte und besonders sozial benachteil­igte Teilnehmer.

Nach und nach ausgeweite­t

Vor 30 Jahren haben sich lediglich elf Länder an Erasmus beteiligt: Belgien, Dänemark, Deutschlan­d, Griechenla­nd, Frankreich, Irland, Italien, Niederland­e, Portugal, Spanien und Großbritan­nien. Mittlerwei­le sind es 33 Länder, darunter alle EU-Staaten, Norwegen, Island, Liechtenst­ein, die Türkei und die ehemalige jugoslawis­che Republik Mazedonien. Die Schweiz hat einen Sonderstat­us mit eingeschrä­nkter Teilnahme. Österreich nimmt seit 1992 teil.

Da sich das Erasmus-Programm auch in Großbritan­nien großer Beliebthei­t erfreut, wurde die fortgesetz­te Teilnahme des Landes nach dessen EU-Austrittse­ntscheidun­g heftig diskutiert. Viele Universitä­ten fürchteten, von ihrer Kooperatio­n mit Bildungsei­nrichtunge­n in den anderen Mitgliedst­aaten abgeschnit­ten zu werden. Britische Studenten, die selbst gern ein oder mehrere Semester in anderen EU-Städten verbringen würden, bangen um diese attraktive Möglichkei­t. In Appellen wird die britische Regierung deshalb gedrängt, zumindest die Erasmus-Kooperatio­n beizubehal­ten. Der Austritt Großbritan­niens würde auch heimische Studenten treffen. Vergangene­s Jahr nahmen 442 österreich­ische Studenten das EUAustausc­hprogramm für einen Aufenthalt auf der Insel in Anspruch. Weitere 171 absolviert­en dort Praktika.

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