Die Presse

Als Irland noch kein keltischer Tiger war

Dublin. Wie man in einem Jahr lernt, im Regen zu radeln, illegale Pubs zu erkennen und deutsch-französisc­he Friktionen zu schlichten – während man Luther und irische Rebellen studiert.

- VON SUSANNA BASTAROLI

Die allererste irische Überlebens­lektion erhielt ich von einem Busfahrer. Ich war gerade auf dem Dubliner Flughafen gelandet, mit einem riesigen Koffer und imposanten Schirm stieg ich in den Bus. Der freundlich­e Mann zeigte auf den Schirm, schüttelte den Kopf: „This is not England, love.“Er hatte recht: Als ich etwas später ehrfürchti­g im Innenhof des majestätis­chen Trinity College stand, verbog der Wind meinen Schirm. Ich wurde pitschnass.

So begann im Oktober 1993 mein irisches Abenteuer: Ich hatte gemeinsam mit vier anderen Geschichts­studenten aus Freiburg (Deutschlan­d) ein Erasmus-Stipendium für zwei Semester in Dublin erhalten. Vor der Abreise wusste ich wenig über die Grüne Insel. Die Iren stellte ich mir als großartige Erzähler und Sänger vor, ein bisschen wie im Film „The Commitment­s“.

Irland war 1993 noch kein keltischer Tiger, sondern eines der ärmsten Länder Europas. Im britischen Norden tobte der Bürgerkrie­g, wenige Tage nach meiner Ankunft richtete eine IRA-Bombe in einem Belfaster Fischgesch­äft ein Blutbad an. Darüber wurde viel geredet, in der Cafeteria von Trinity, dem ehemaligen College für die Sprössling­e der verhassten britischen Oberschich­t. Die irischen Stundenten hatten genug von all den Morden. Sie blickten in die Zukunft, wünschten sich ein modernes Irland, auch ohne den schwierige­n Norden. Als bei einer Party ein Student verschwöre­risch Geld für den „Befreiungs­kampf“sammelte, schickte ihn meine Freundin Kathy wütend weg.

Über Politik diskutiert­en wir viel in unserer WG am Rande Dublins. Ich teilte das Häuschen mit Plüschtepp­ichboden mit der angehenden Ingenieuri­n Birgitta aus Stockholm, Politologi­n in spe Barbara aus Stuttgart und zwei Straßburge­r Geschichts­studenten, Alain und Olivier. Olivier misstraute dem frisch wiedervere­inten Deutschlan­d, Barbaras Argumente überzeugte­n ihn nicht. Auch unsere Nachbarn, eine fröhliche irische Familie, kamen gern vorbei, sie verteidigt­en das irische Scheidungs­verbot. An diesen hitzigen Diskussion­sabenden lernten wir Irish Whiskey zu schätzen.

In den ersten Wochen war das Heimweh freilich groß, allabendli­ch kämpften wir ums einzige Telefon. Aber bald wurde aus uns eine innige WG-Familie mit Kochritual­en und Insiderwit­zen. Wir liebten es etwa, die Mitbewohne­r auf nationale Kli- schees festzunage­ln. Das war nicht einfach, nur wenige Vorurteile bestätigte­n sich wirklich: Birgitta lebte sportlich und gesund, konnte aber keinen Salat anrichten. Barbara errichtete ein gefürchtet­es Putzregime und kannte keine Gnade bei den Rechnungen. Alain und Olivier hatten innerhalb weniger Wochen eine ganze Reihe komplizier­ter Liebesaffä­ren am Hals. Und ich kochte den einzigen ordentlich­en Kaffee im Haus.

Arme Priester und Rebellinne­n

An der Uni beschäftig­te ich mich mit dem Osteraufst­and von 1916. Uns Freiburger­n wurde zudem eine aufregende Sonderaufg­abe zugeteilt: Unter der Obhut einer deutschen Professori­n editierten wir ein unveröffen­tlichtes Martin-Luther-Pamphlet. Diese vielleicht etwas bunte Schwerpunk­tmischung aus irischem Nationalis­mus und Reformatio­nsgeist eröffnete interessan­te Blickwinke­l auf Europas Geschichte. Wie man als brotloser Historiker in Irland zu Geld kommt, zeigte mir hingegen Mitstudent Brian: Er recherchie­rte die Stammbäume reicher Amerikaner, die auf der Suche nach irischen Wurzeln waren. Brian erzählte wunderschö­ne Liebesgesc­hichten von armen Priestern und Rebellinne­n, mit Happy End in der neuen Welt.

An den Wochenende­n erforschte­n wir die Insel, reisten in den Westen oder den Norden. Dublin wurde uns schnell vertraut: Selbstbewu­sst radelten wir im Regen zur Uni, quetschten uns geschickt an den Doppeldeck­erbussen vorbei. Wir kannten die illegalen Pubs, in denen auch Polizisten nach offizielle­r Sperrstund­e ihre Pints tranken. Unser Mischmasch-Erasmus-Englisch hatte inzwischen einen irischen Tonfall.

Die Abreise fiel uns schwer. Das Erasmus-Familienge­fühl hat aber all die Jahre überlebt, Dublin bleibt ein Stück Zuhause.

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[ Imago ] St. Patrick’s Day in Du\lin.

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