Wie Putin die Welt mit Getreide versorgt
Agrar. Russland exportiert so viel Weizen wie noch nie. Und hält damit den Preis niedrig.
Wien. Ging es um den Umgang mit Niederlagen im Wettbewerb mit den USA, waren die Russen immer erfinderisch. Vor allem zur Zeit des Kalten Krieges wurde ein zweiter Platz hinter den Amerikanern etwa beim Sport quasi in einen Sieg umgedeutet. Die Russen seien Zweiter geworden, hieß es dann: die Amerikaner nur Vorletzter.
Sieht man sich heute den Getreideexport an, brauchen die Russen nach jahrzehntelangen Rückständen nicht mehr tricksen. Seit dem Vorjahr nämlich hat das Riesenreich laut der Agrarorganisation der UNO (FAO) die USA beim Export von Weizen überholt. Nur die EU blieb stärker. Sie hat demnach 29,7 Mio. Tonnen exportiert – um eine Mio. Tonnen mehr als die Russen. Die Statistik des US-Landwirtschaftsministerium USDA weicht leicht ab und prognostiziert, dass das eigene Land erst ab heuer von den Russen überrundet wird.
Kornkammer wie vor 1917
Mit der historischen Rekordernte von 73 Mio. Tonnen Weizen (und 119,1 Mio. Tonnen Getreide insgesamt) belegt Russland zwar nur Platz vier hinter der EU, China und Indien. Aber es spielt wieder vorne mit und ist dafür mitverantwortlich, dass der Preis für Weizen im Keller bleibt. Dorthin war er geraten, nachdem vor fünf Jahren die Blase auf den Rohstoffmärkten geplatzt war. Im Vergleich zu damals kostet Getreide heute weniger als halb so viel. Daran wird sich so schnell auch nichts ändern, schließlich sind die Getreidelager der Welt so voll wie kaum je zuvor. Und die Weltproduktion wird heuer auf nur leicht niedrigerem Niveau als im Vorjahr weitergehen.
Für Russland bedeutet der Aufstieg in die oberste Liga nicht nur mehr Selbstbewusstsein, weil die von Erdöl, Gas und Waffen dominierte Exportstruktur durch Agrarerzeugnisse erweitert wird. Er bekommt 100 Jahre nach der Machtübernahme durch die Kommunisten auch symbolischen Charakter: Russland ist wie schon zur Zeit der Zaren wieder eine Kornkammer der Welt. Im Übrigen auch die benachbarte und verfeindete Ukraine.
Das Jahrhundert dazwischen war durch viele Hungerkatastrophen gekennzeichnet gewesen, weil die Zwangskollektivierung die Anbaufläche und den Ertrag verringert hatte. Selbst im Kalten Krieg musste die Sowjetunion eigene Ernteausfälle mit Importen aus den USA kompensieren. Mit dem Ende der Sowjetunion begann dann überhaupt der Verfall der Agrarindustrie. Russland blieb lange Nettoimporteur von Agrarprodukten, darunter Getreide.
Erst unter Kremlchef Wladimir Putin wurde der private Kauf von Ackerland wieder erlaubt. Was folg- te, war ein großflächiger Aufkauf der Flächen entlang der Wolga und im südrussischen Schwarzerdegebiet durch Magnaten. Einer der größten unter ihnen ist Landwirtschaftsminister Alexandr Tkatschow. „Getreide ist nicht weniger rentabel als Öl“, sagte er kürzlich in einem Interview.
Embargo steigerte Produktion
In der Tat sind Investitionen in den Agrarsektor zu einem guten Geschäft in Russland geworden. Dazu trug das Importembargo auf Agrarprodukte bei, das Putin als Reaktion auf die westlichen Sanktionen 2014 verhängt hatte. Während die Gesamtwirtschaft in den Jahren 2015 und 2016 schrumpfte, legte die Agrarproduktion um 2,6 bzw. 4,8 Prozent zu. Zum Teil dank der drastischen Rubelabwertung seit Mitte 2014. Um innerhalb von ma- ximal sieben Jahren vollständig von Lebensmittelimporten unabhängig zu werden, subventioniert der Staat den Sektor massiv.
Bei Weizen hat er den Exportzoll wieder ausgesetzt. Im Jahr 2010 hatte die Regierung die Zölle verfügt, um den Exportdrang zu bremsen und so die Inlandspreise zu drücken. Die Maßnahme hat dann aber in wichtigen Exportmärkten die Preise getrieben und in Ägypten, dem weltweit größten Importeur, zu Unruhen geführt.
Der Export in den Nahen Osten gestaltet sich freilich nicht friktionsfrei, weshalb neue Märkte angepeilt werden: Nigeria, Bangladesch und Indonesien sind auf dem Schirm. Im April wurde zum ersten Mal auch auf dem Landweg Weizen nach China exportiert. Damit fließt das Getreide eher ins Reich der Mitte, als es das Erdgas tun wird.