Wie die Bewegung in die Politik kam
Wortgeschichte. Warum ist das Wort „Bewegung“in der politischen Rhetorik wieder so beliebt? Das hat teils historische Gründe: Über die Lust der Neuzeit an den Zeitwörtern, die Sprache der Jakobiner, Karl Marx – und einen Professor in Wien.
Einst wimmelte es in der politischen Werbesprache von Wegen, aber sie sind aus der Mode gekommen. Vielleicht weil man auf einem Weg erst gehen kann, wenn es ihn schon gibt? Ein Weg gibt dem Gehenden die Richtung vor. Bei der Bewegung dagegen entscheiden die Gehenden selbst, wohin es gehen soll.
Als neues altes politisches Modewort hat die Bewegung nun wieder Konjunktur, von den USA bis Europa. Bemerkenswert eigentlich, denn das Wort impliziert per se weder kontinuierliche Richtung noch Sinn, Bewegung kann auch hirnlos, kreisend sein. Daran denkt aber niemand, wenn er das Wort hört, es hat gewissermaßen einen Vertrauensvorschuss an Sinn. Warum eigentlich?
Das hat vor allem historische Gründe. Die heutigen Rhetoriker politischer Bewegung sind allesamt Trittbrettfahrer der Geschichte einer politischen Metapher. Sie wurzelt in der Aufklärung, in der säkulare Geschichte zum ersten Mal als lineare Bewegung gesehen wurde, und zwar optimistisch – als Fortschritt in die einzig richtige Richtung. Friedrich Schiller dankte Adam und Eva für ihren Ungehorsam, weil sie die Menschheit vom Stillstand erlöst hätten. Es war ein neues Gefühl, dass die säkulare Geschichte einen Vertrauen erweckenden Richtungspfeil hat, das zeigte sich auch an der Sprache. Mit einem Mal kamen im Deutschen eine Menge von Wörtern auf, die Zeit mit Geschichte verbanden – vom „Zeitgang“und dem „Zeitgefühl“bis hin zum heute noch beliebten „Zeitgeist“. Das 18. Jahrhundert strotzte auch von neuen Bewegungswörtern. Sie sind für den Historiker Reinhard Kostelleck sogar besonders signifikant für die veränderte Geschichtserfahrung in der Neuzeit.
Goethe: „hierhin und dorthin wankend“
Davor wurde „Bewegung“nur selten – und negativ – für öffentlichen Aufruhr verwendet. Bei Luther etwa – in seiner Übersetzung der Apostelgeschichte – für den Aufstand der Silberschmiede, die durch Paulus ihr Geschäft gefährdet sahen. In Goethes Epos „Hermann und Dorothea“fliehen Deutsche vor der „fürchterlichen Bewegung“der französischen Revolutionstruppen. Die hat für Goethe keineswegs ein sinnvolles Ziel, sondern ist im Gegenteil „hierhin und dorthin wankend“. Diese Interpretation kam von Goethe – das Wort selbst aber von den Revolutionären. Die Jakobiner sprachen, wie heute Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, von der Revolution als „mouvement“. Es ist eines von etlichen Vokabeln der geistlichen Sprache (ebenso wie etwa „reveil“,´ „Erwachen“, „Erweckung“), die die Revolutionäre in die säkulare Politik übergeführt haben.
Der Mann, der den Begriff der „sozialen Bewegung“prägte – aus dem sich dann jener der „politischen Bewegung“ableitete –, bezeichnete denn auch die Französische Revolution als Prototyp der sozialen Bewegung. Es war der deutsche Staatsrechtler und Ökonom Lorenz von Stein, der ab 1855 drei Jahrzehnte lang an der Uni Wien lehrte und in Weidlingau bei Wien gestorben ist.
Auch wenn er ein Reformer war, kein Revolutionär, dürften seine Forschungen über die Französische Revolution Karl Marx beeinflusst haben. Von Stein wollte mit dem neuen Terminus vermitteln, dass es nun ein eigenes Ding namens Gesellschaft gebe, das unabhängig vom Staat existiert und, bisher ungehört, seine Bedürfnisse artikuliert. Hier begann die „Bewegung“, verstanden als eine von unten, Antipode von Staat und System zu werden.
Mit Karl Marx bekam das Proletariat vollends das Bewegungsmonopol. 1844 schrieb er zum ersten Mal von der „Arbeiterbewegung“, später nannte er sie schlicht „die Bewegung“. Das war nur folgerichtig: In einem Weltbild, dem zufolge die Geschichte zwangsläufig zum Sieg der Arbeiterklasse führen muss, erschien die Bewegung des Proletariats als synonym mit der Bewegung der Geschichte an sich. Die Rechte ließ sich nicht lange lumpen und okkupierte den Begriff im späten 19. Jahrhundert ebenfalls. Anknüpfend an die „Völkische Bewegung“und gegen die Kommunisten definierten sich etwa die Nationalsozialisten als Bewegung, ja, ebenfalls als „die Bewegung“.
„Stillstand“: Ein altes Angstwort
Genauso wie damals können Politiker, wenn sie von „Bewegung“sprechen, heute all die Assoziationen aktivieren, die sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet haben: dass ihre Politik vom „Volk“ausgeht, dass sie damit das historisch Notwendige vollziehen, dass sie Widerstand gegen ein unbewegli- ches System (den Staat) leisten, dass sie für den wahren Fortschritt arbeiten.
„Der Durchsetzungserfolg der Unruhe verdankt sich weniger der Werbung für eine Idee als der Schmähung dessen, was ohne die Unruhe zweifellos geschehen würde“, schreibt der Philosoph Ralf Konersmann in seinem jüngst erschienenen „Buch der Unruhe“. Und erinnert daran, dass der Stillstand seit Beginn der Neuzeit „als polemischer Gegenentwurf zum wahren Fortschritt in Stellung gebracht“worden sei. Aus der Angst vor dem Stillstand kann auch die Freude an der Bewegung als Selbstweck werden – gerade dann, wenn man nicht weiß, wohin es weitergehen soll. So pries das futuristische Manifest 1909 „die angriffslustige Bewegung, den Laufschritt“und „den Faustschlag“, die „Schönheit der Geschwindigkeit“und des Kampfes; der Krieg sei „die einzige Hygiene der Welt“. Die Futuristen waren Proto-Faschisten und sympathisierten mit den Anarchisten, alles durcheinander, aber das war ja auch gar nicht so wichtig. Hauptsache – Bewegung.