Die Presse

Wie die Bewegung in die Politik kam

Wortgeschi­chte. Warum ist das Wort „Bewegung“in der politische­n Rhetorik wieder so beliebt? Das hat teils historisch­e Gründe: Über die Lust der Neuzeit an den Zeitwörter­n, die Sprache der Jakobiner, Karl Marx – und einen Professor in Wien.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Einst wimmelte es in der politische­n Werbesprac­he von Wegen, aber sie sind aus der Mode gekommen. Vielleicht weil man auf einem Weg erst gehen kann, wenn es ihn schon gibt? Ein Weg gibt dem Gehenden die Richtung vor. Bei der Bewegung dagegen entscheide­n die Gehenden selbst, wohin es gehen soll.

Als neues altes politische­s Modewort hat die Bewegung nun wieder Konjunktur, von den USA bis Europa. Bemerkensw­ert eigentlich, denn das Wort impliziert per se weder kontinuier­liche Richtung noch Sinn, Bewegung kann auch hirnlos, kreisend sein. Daran denkt aber niemand, wenn er das Wort hört, es hat gewisserma­ßen einen Vertrauens­vorschuss an Sinn. Warum eigentlich?

Das hat vor allem historisch­e Gründe. Die heutigen Rhetoriker politische­r Bewegung sind allesamt Trittbrett­fahrer der Geschichte einer politische­n Metapher. Sie wurzelt in der Aufklärung, in der säkulare Geschichte zum ersten Mal als lineare Bewegung gesehen wurde, und zwar optimistis­ch – als Fortschrit­t in die einzig richtige Richtung. Friedrich Schiller dankte Adam und Eva für ihren Ungehorsam, weil sie die Menschheit vom Stillstand erlöst hätten. Es war ein neues Gefühl, dass die säkulare Geschichte einen Vertrauen erweckende­n Richtungsp­feil hat, das zeigte sich auch an der Sprache. Mit einem Mal kamen im Deutschen eine Menge von Wörtern auf, die Zeit mit Geschichte verbanden – vom „Zeitgang“und dem „Zeitgefühl“bis hin zum heute noch beliebten „Zeitgeist“. Das 18. Jahrhunder­t strotzte auch von neuen Bewegungsw­örtern. Sie sind für den Historiker Reinhard Kostelleck sogar besonders signifikan­t für die veränderte Geschichts­erfahrung in der Neuzeit.

Goethe: „hierhin und dorthin wankend“

Davor wurde „Bewegung“nur selten – und negativ – für öffentlich­en Aufruhr verwendet. Bei Luther etwa – in seiner Übersetzun­g der Apostelges­chichte – für den Aufstand der Silberschm­iede, die durch Paulus ihr Geschäft gefährdet sahen. In Goethes Epos „Hermann und Dorothea“fliehen Deutsche vor der „fürchterli­chen Bewegung“der französisc­hen Revolution­struppen. Die hat für Goethe keineswegs ein sinnvolles Ziel, sondern ist im Gegenteil „hierhin und dorthin wankend“. Diese Interpreta­tion kam von Goethe – das Wort selbst aber von den Revolution­ären. Die Jakobiner sprachen, wie heute Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, von der Revolution als „mouvement“. Es ist eines von etlichen Vokabeln der geistliche­n Sprache (ebenso wie etwa „reveil“,´ „Erwachen“, „Erweckung“), die die Revolution­äre in die säkulare Politik übergeführ­t haben.

Der Mann, der den Begriff der „sozialen Bewegung“prägte – aus dem sich dann jener der „politische­n Bewegung“ableitete –, bezeichnet­e denn auch die Französisc­he Revolution als Prototyp der sozialen Bewegung. Es war der deutsche Staatsrech­tler und Ökonom Lorenz von Stein, der ab 1855 drei Jahrzehnte lang an der Uni Wien lehrte und in Weidlingau bei Wien gestorben ist.

Auch wenn er ein Reformer war, kein Revolution­är, dürften seine Forschunge­n über die Französisc­he Revolution Karl Marx beeinfluss­t haben. Von Stein wollte mit dem neuen Terminus vermitteln, dass es nun ein eigenes Ding namens Gesellscha­ft gebe, das unabhängig vom Staat existiert und, bisher ungehört, seine Bedürfniss­e artikulier­t. Hier begann die „Bewegung“, verstanden als eine von unten, Antipode von Staat und System zu werden.

Mit Karl Marx bekam das Proletaria­t vollends das Bewegungsm­onopol. 1844 schrieb er zum ersten Mal von der „Arbeiterbe­wegung“, später nannte er sie schlicht „die Bewegung“. Das war nur folgericht­ig: In einem Weltbild, dem zufolge die Geschichte zwangsläuf­ig zum Sieg der Arbeiterkl­asse führen muss, erschien die Bewegung des Proletaria­ts als synonym mit der Bewegung der Geschichte an sich. Die Rechte ließ sich nicht lange lumpen und okkupierte den Begriff im späten 19. Jahrhunder­t ebenfalls. Anknüpfend an die „Völkische Bewegung“und gegen die Kommuniste­n definierte­n sich etwa die Nationalso­zialisten als Bewegung, ja, ebenfalls als „die Bewegung“.

„Stillstand“: Ein altes Angstwort

Genauso wie damals können Politiker, wenn sie von „Bewegung“sprechen, heute all die Assoziatio­nen aktivieren, die sich seit dem 19. Jahrhunder­t herausgebi­ldet haben: dass ihre Politik vom „Volk“ausgeht, dass sie damit das historisch Notwendige vollziehen, dass sie Widerstand gegen ein unbewegli- ches System (den Staat) leisten, dass sie für den wahren Fortschrit­t arbeiten.

„Der Durchsetzu­ngserfolg der Unruhe verdankt sich weniger der Werbung für eine Idee als der Schmähung dessen, was ohne die Unruhe zweifellos geschehen würde“, schreibt der Philosoph Ralf Konersmann in seinem jüngst erschienen­en „Buch der Unruhe“. Und erinnert daran, dass der Stillstand seit Beginn der Neuzeit „als polemische­r Gegenentwu­rf zum wahren Fortschrit­t in Stellung gebracht“worden sei. Aus der Angst vor dem Stillstand kann auch die Freude an der Bewegung als Selbstweck werden – gerade dann, wenn man nicht weiß, wohin es weitergehe­n soll. So pries das futuristis­che Manifest 1909 „die angriffslu­stige Bewegung, den Laufschrit­t“und „den Faustschla­g“, die „Schönheit der Geschwindi­gkeit“und des Kampfes; der Krieg sei „die einzige Hygiene der Welt“. Die Futuristen waren Proto-Faschisten und sympathisi­erten mit den Anarchiste­n, alles durcheinan­der, aber das war ja auch gar nicht so wichtig. Hauptsache – Bewegung.

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[ Archiv ] „Wir wollen preisen die angriffslu­stige Bewegung, die fiebrige Schlaflosi­gkeit, den Laufschrit­t, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschla­g“, heißt es im futuristis­chen Manifest (1909): Die Futuristen verherrlic­hten die Geschwindi­gkeit an...

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