Bahn könnte EU zusammenhalten, aber man lässt sie nicht
Warum gibt es kein länderübergreifendes Buchungsservice für Bahnreisen in Europa? Warum schenkt man nicht jedem 18-jährigen Europäer ein Interrail-Ticket?
Wer in diesen Tagen den Sommerurlaub plant, ist gefährdet, gedanklich abzuschweifen. Weg von den konkreten Flugvergleichsportalen und Hotelbewertungswebsites hin zu kühnen Ideen, wie Reisen auch anders ginge. Und ob manches nicht wesentlich einfacher, stilvoller, günstiger und umweltschonender möglich wäre.
Da ist zum Beispiel das Mysterium, warum es der Bahn in Europa so unendlich schwer gemacht wird. Die Landkarte zeigt, dass sich Europa ideal für Bahnreisen eignet: Wie bei einer Perlenkette sind die Städte entlang von Gleisen aufgefädelt, die Entfernungen sind kurz, die Strecken vielfältig, sie queren mühelos Staats- und Sprachgrenzen. Aus dem Fenster schauend kann man beobachten, wie eine Landschaft in die andere übergeht, wie sich – fließend oder abrupt – Alltagsgewohnheiten, Siedlungsformen, Sprachen und wirtschaftliche Grundlagen ändern. Mit der Bahn könnte man Europa erfahren, im engsten Sinn des Wortes.
Doch leider stehen einem dabei tausend Hindernisse im Weg: Wer jemals versucht hat, einen durch mehrere Staaten führenden Familienurlaub zu planen, lernt sie alle kennen. Sich im Dickicht von 28 verschiedenen Tarifsystemen zurechtzufinden, ist eine Wissenschaft, die sich nur Eingeweihte zutrauen; hier gilt Reservierungspflicht, dort gibt es Schnellzugzuschläge, woanders wiederum zeitliche Einschränkungen.
Haben Sie jemals auf einer fremdsprachigen Website einen Schlafwagen gebucht, der aus dem Ausland kommt und in ein anderes Land weiterfährt? Und wie haben Sie Ihr so gebuchtes Ticket schließlich in die Hand bekommen? Eben. Von den Ticketpreisen, die häufig um ein Vielfaches über den Flugpreisen liegen, ist da noch gar nicht die Rede.
Hätten es die europäischen Staaten jemals ernst gemeint mit ihrem Plan zusammenzuwachsen – der grenzüberschreitende Bahnverkehr wäre ein idealer Ansatz gewesen, um damit anzufangen. Ein vielsprachiges, übersichtliches, einheitliches europäisches Auskunfts- und Buchungssystem – das wäre bürgernah, nützlich, völkerverbindend und dazu noch 100-prozentig ideologiefrei.
Von dort kann man sogar noch weiterdenken. Was, wenn man diese europaverbindende Art des Reisens nicht nur ermöglichen, sondern aktiv fördern würde? Wenn jeder junge Mensch, der in Europa heranwächst, ermuntert wird, seinen Kontinent, zumindest ein, zwei Monate lang, in all seiner Widersprüchlichkeit zu erforschen, und auszuprobieren, wie es sich woanders leben ließe? Studierende haben dieses Privileg bereits. Das Erasmus-Programm hat bisher einer Million junger Leute Aufenthalte an fremden europäischen Universitäten ermöglicht. Die persönlichen Beziehungen, die dabei entstanden sind, haben wohl mehr zum Zusammenwachsen Europas beigetragen als alle EURichtlinien. Das sollte nicht auf Studierende beschränkt bleiben. Jugendarbeitslosigkeit ist in vielen Ländern ein riesiges Problem. Abgehängte junge Menschen, die keine Perspektive für das Leben haben und nicht den Blick über den engen Radius ihres Milieus hinaus wagen, machen der Politik vielerorts Sorgen.
Früher schickte man Lehrlinge auf die Walz. Sie sollten sich der Fremde aussetzen, Erfahrungen machen, ausprobieren, was sie können. So etwas Ähnliches würde jedem einzelnen jungen Europäer und jeder einzelnen jungen Europäerin auch heute guttun.
Eine EU-Parlamentariergruppe hat genau das versucht. Vergangenen Herbst entstand die wunderbare Idee, die EUKommission solle jedem Jugendlichen zum 18. Geburtstag ein Interrail-Ticket schenken. Damit jeder seine Sprachkenntnisse in der Praxis ausprobieren, sich vielleicht verlieben, und auf grenzüberschreitende Gedanken kommen kann. Mit genau jenem Verkehrsmittel, das dafür ideal geeignet ist. Etwa eine Milliarde Euro hätte das gekostet. Das war den EU-Mitgliedern zu viel.
Wie schade! Es gibt kaum ein Projekt, in das das Geld besser investiert wäre.