Große Inszenierung – und auf der Strecke bleibt die Sachpolitik
Warum die Leute draußen längst vom politischen Getue entnervt sind.
Die Medien hätten sich teilweise von den realen Lebensverhältnissen der Menschen entfernt, konstatierte Bundeskanzler Christian Kern vor kurzem im Wiener Rathaus. Für seine Rede beim European Newspaper Congress hatte er sich Gedanken über die Medienwelt gemacht. „Der Journalismus ist das Immunsystem einer Demokratie“, fasste er seine Überlegungen allegorisch zusammen.
Kerns Rede war nicht unkritisch. Seine Nachfolgerin am Rednerpult, Julia Jäkel, die Vorstandsvorsitzende von Gruner+Jahr, gab sich überrascht, dass hier so kritische Worte möglich seien. Ich aber blieb an der eingangs zitierten Aussage hängen. Was heißt „reale Lebensverhältnisse“?
Politik regelt durch Entscheidungen unseren Alltag. In der medialen Berichterstattung regelt Politik momentan vor allem: Wie Sebastian Kurz die Leute um und unter sich zusammenwürfelt und am Spielfeld positioniert; wie Michael Häupl noch einen eleganten Abgang hinbekommt; wie Eva Glawischnig ihre Nachfolge klärt; und was Reinhold Mitterlehner mit der neugewonnen freien Zeit anfängt.
Ist es dieses Ungleichgewicht der Themensetzung, das Kern angesprochen hat? Dabei sind es just die politischen Interna, die dem Kanzler nützen. Er ist es ja, der von 95 Prozent Inszenierung in der politischen Arbeit sprach. Noch viel mehr bringt es momentan freilich dem Kanzlerkandidaten Kurz.
Was Kurz und Kern eint
Was Kurz und Kern eint: relative Ideologiebefreitheit. Ihr Ziel in der öffentlichen Wahrnehmung ist die selbsterklärte Unabhängigkeit, die beispielsweise auch Irmgard Griss zu großem Erfolg verhalf. Kurz befreit sich vom Logo der faden Altpartei und will Kern mit der Kommunisten-Broschüre einen ideologischen Stempel aufdrücken. Beide trommeln sich ihr selbstoptimiertes Ich-Programm auf die geschwellte Brust. Was aber auf der Strecke bleibt, ist die Sachpolitik. Meint Kern das, wenn er von den „realen Lebensverhältnissen“spricht? Sven Gächter meinte im „Profil“in dem Text ,Speed thrills‘, „der lähmende Stillstand“sei vorbei. Ich widerspreche. Speed kills – nämlich die Sachpolitik. Freilich, das ist nicht neu.
Der österreichische Stillstand
Finanzminister Hans Jörg Schelling nannte als Beispiel in der ORF-Pressestunde die Bildungsreform. Anstatt Strategien zu entwickeln, würde in Österreich nur an den Strukturen gearbeitet. Und so bleibt von der jahrzehntelangen Arbeit an einer Bildungsreform ein Häufchen Asche namens Lehrerdienstrechtstreit übrig. Den österreichtypischen Stillstand in der politischen Arbeit gibt es noch immer. Vor allem wir Journalisten beachten ihn nur weniger.
Es wuselt in den Parteizentralen und Teilorganisationen. Die Parlamentarier scharren nervös und bangen um ihre Zukunft. „Wir Zuschauer verfolgen das Geschehen jedenfalls gebannt“, schreibt Gächter. Auch hier widerspreche ich. Die Leute draußen sind entnervt von diesem ganzen Getue. Sie begegnen der politischen Vertretung nicht mehr mit Ernst. Ihre Wählerstimme materialisiert sich nicht in Lösungen, sondern wird zerrieben in parteiinternen und zwischenparteilichen Konflikten.
Wann immer von Trägheit in der österreichischen Politik die Rede war, bezog sich das auf die gegenseitige Verbissenheit. Die Zahnräder der Großen Koalition haben sich endgültig verkeilt. Jeweils dahinter drehen die kleinen Rädchen durch. Der journalistische Blick stellt scharf darauf. Jene Themen aber, bei denen sich zeigt, wie politische Entscheidungen die „reale“Lebenswelt beeinflussen, bleiben auf der Strecke. In der Politik und in der Berichterstattung.