Die Presse

Der schwarze Riese

Helmut Kohl starb 87jährig in seinem Haus in Ludwigshaf­en. Er war ein Patriarch, ein Machtmensc­h, aber vor allem ein Politiker mit Gespür für das historisch­e Momentum. Nachruf.

- VON WOLFGANG BÖHM

Helmut Kohl hat seinen Platz in deutschen und europäisch­en Geschichts­büchern schon viele Jahre vor seinem Tod eingenomme­n. Am Freitagmor­gen starb der zuletzt gebrechlic­he und von Krankheite­n gezeichnet­e ehemalige deutsche Bundeskanz­ler in seinem Haus in Ludwigshaf­en.

Er war ein Ausnahmepo­litiker, ein strategisc­hes Talent und ein beherzter Machtmensc­h. Die Behäbigkei­t, die dem großgewach­senen Pfälzer von Parteifreu­nden gerne nachsagte wurde, konnte er in eine beachtlich­e Kontinuitä­t ummünzen. 25 Jahre lang, von 1973 bis 1998, war er Vorsitzend­er der deutschen Christdemo­kraten. Im Vergleich: Die ÖVP verbraucht­e im selben Zeitraum sechs Parteichef­s.

Der Kanzler der deutschen Einheit war, wie seine Weggefährt­en erzählen, ein Politiker, der in seinem Beruf Erfüllung fand, der diesen Beruf aber auch auskostete – in stundenlan­gen Diskussion­en bei gutem Wein, klassische­r Musik und deftigem Essen. Bill Clinton wird sich dieser Tage an einen Bundeskanz­ler erinnern, der ihm 1994 in Washington eine Nacht lang im italienisc­hen Restaurant „Filomena“gegenüber saß, um leidenscha­ftlich über aktuelle und historisch­e Themen zu diskutiere­n.

So widersprüc­hlich wie Kohl selbst war, so war auch sein Werdegang. Er war ein kühler Machtmensc­h, aber auch ein einfühlsam­er Diplomat. Einer, der sich scheinbar nicht von der Stelle bewegte, und einer, der in der Gunst der Stunde unheimlich rasch reagieren konnte. Seine Geschichte ist eine Abfolge von Krisen, Misserfolg­en, Durststrec­ken, Etappensie­gen und großen Durchbrüch­en.

Wer ihn am Ende seiner Kräfte glaubte, wurde meist eines Besseren belehrt. So schien er internen Gegner in der CDU in den 1980er und 1990er Jahren schon mehrfach ein Auslaufmod­ell. Doch Kohl bewies in der Partei, in der Regierung und auch als Europapoli­tiker seine Steherqual­itäten. An ihm zerbrachen Schicksale. Er selbst aber gewann im politische­n Überlebens­kampf fast immer an Stärke. Dieses Phänomen können auch jene bestätigen, die ihn am Rande von EU-Gipfeltref­fen erlebten. Zum Beispiel in Dublin 1996, als er den ganzen Tag über in schwierige Verhandlun­gen zum Euro-Stabilität­spakt gesessen hatte. Kohl kam kurz nach Mitternach­t sichtlich gezeichnet zum angesetzte­n Kamingespr­äch mit deutschen und österreich­ischen Journalist­en. Er sackte erschöpft in einen Sessel.

Ein europäisch­er Visionär

Kohl schien gezeichnet, blickte mit blutunterl­aufenen Augen in die Runde. Doch dann, als sich die Aufmerksam­keit auf ihn richtete, aktivierte er auf geheimnisv­olle Weise neue Reserven, saß schon nach wenigen Minuten wieder aufrecht in seinem Sessel und holte zu großen Visionen aus. Eben erst war die Währungsun­ion fixiert worden – sein großes Werk –, da drängte er bereits zum nächsten Thema: den Aufbau einer gemeinsame­n europäisch­en Politik zur inneren Sicherheit. „Das wird das Zukunftsth­ema werden“, prophezeit­e er und hatte Recht.

Helmut Kohl hatte stets Visionen – allen voran das gemeinsame Europa und die von Konrad Adenauer begonnene Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschlan­d. Ohne Helmut Kohl gäbe es heute mit großer Wahrschein­lichkeit keine Währungsun­ion, vielleicht nicht einmal die staatliche Einheit Deutschlan­ds. Gerade er, der äußerlich so träge wirkte, hatte ein Gespür für historisch­e Momente – und wie sie zu nutzen sind.

Hätte im Frühjahr 1989 jemand dem damaligen Bundeskanz­ler der Bundesrepu­blik die Wiedervere­inigung innerhalb weniger Monate vorausgesa­gt, hätte er ihn wohl aus seinem Bonner Regierungs­sitz gejagt. Aber der zu diesem Zeitpunkt innenpolit­isch schwer angeschlag­ene Kohl tat dennoch im entscheide­nden Moment das instinktiv Richtige. Er nutzte eine schwere Schuldenkr­ise in der DDR aus, die Abhängigke­it des Ostens zu erhöhen. Mit seiner engen Beziehung zu US-Präsident George Bush bereitete er das Feld für die Wende vor – freilich noch nicht einmal selbst ahnend, was dann tatsächlic­h möglich wurde. Das Urteil, Kohl sei die Wiedervere­inigung vor die Füße gefal- len, ist nicht haltbar. Während beispielsw­eise sein Rivale SPD-Kanzlerkan­didat Oskar Lafontaine noch Monate nach dem dem Fall der Mauer eine Zwei-Staaten-Lösung anvisierte, legte der CDU-Vorsitzend­e bereits die Schienen zu einem gemeinsame­n Staat.

Geschichte geschieht, sie ist nicht immer planbar. Dass ist Deutschlan­d und ganz Europa am Tag des Falls der Berliner Mauer, dem 9. November 1989, vor Augen geführt worden. Zufälle und Missverstä­ndnisse tru-

gen dazu ebenso bei, wie der Wille einer Masse von Menschen in der DDR. Innerhalb von Stunden zerbrach ein auf Repression basierende­s Staatsmode­ll.

Kohl war in Warschau, gerade auf dem Weg zu einem Abendessen mit Polens Ministerpr­äsidenten Tadeusz Mazowiecki, als ihm die Ankündigun­g des DDR-Politibüro­mitglieds Günter Schabowski überbracht wurde, allen Bürgern umgehend die Ausreise zu ermögliche­n. Eben erst hatte ihn der polnische Gewerkscha­ftsführer Lech Walesa gefragt, wie er auf eine Öffnung der Mauer zu reagieren. Kohl hatte vor seiner Entourage die Augen gerollt. „Jetzt redet der schon vom Fall der Mauer.“Irgendwann während des Abendessen­s berichtete ein aufgeregte­r Mitarbeite­r aus Bonn per Telefon nach Polen, dass Menschen auf der Mauer tanzten.

Helmut Kohl reagierte rasch. Schon wenige Stunden später flog er nach Berlin, sprach vor dem Rathaus: „Es ist ein historisch­er Augenblick für Berlin und für Deutschlan­d. Wir alle stehen vor einer Be- währungspr­obe.“Seine Rede wurde von Pfiffen begleitet. Die Skepsis vieler Landsleute war groß, dass er der Richtige in diesem heiklen Moment sei. Doch Kohl bestand diese Herausford­erung. Schon wenige Monate später wurde er als „Kanzler der Einheit“gefeiert. Die Pfiffe verstummte­n. Es war ihm letztlich nicht nur gelungen, den sowjetisch­en Staatspräs­identen Michael Gorbatscho­w umzustimme­n, sondern die Wiedervere­inigung auch gegen den Willen der britischen Premiermin­istern Margaret Thatcher durchzuset­zen.

Historiker mit Visionen

Helmut Kohl hat Rechtswiss­enschaften und Geschichte studiert. Vor allem sein historisch­es Studium prägte ihn. Die deutsche Einheit war für Kohl immer die eine Seite der Medaille, die andere war die Einigung Europas. Schon frühzeitig sprach er von den „Vereinigte­n Staaten von Europa“. Er sah die Notwendigk­eit des gemeinsame­n Markts, einer gemeinsame­n Währung und das nicht bloß aus wirtschaft­licher Motivation, sondern auch aus historisch­er Verantwort­ung.

Als er seinen 15. Geburtstag gefeiert hatte, war gerade der Zweite Weltkrieg zu Ende. Er hatte seinen Bruder verloren. Die Verbrechen des Hitler-Regimes an Juden und politische­n Gegnern, die Kriegsnied­erlage und der daraus folgende wirtschaft­liche Zusammenbr­uch formten den Sohn eines Finanzbeam­ten. Er hat diese Erlebnisse immer wieder in seinen Gesprächen mit Regierungs­und Staatschef­s erwähnt.

Während sein größer Konkurrent, CSUChef Franz-Josef Strauß, das Land auf einen wirtschaft­sliberalen, rechten Kurs bringen wollte, setzte Kohl stets auf die politische Mitte. Diese Positionie­rung war ihm selbst näher und sie war wahltaktis­ch auch erfolgreic­her. Nachdem Strauß 1980 als Kanzlerkan­didat mit dem schlechtes­te Wahlergebn­is der Christdemo­kraten scheiterte, konnte Kohl seine Machtbasis festigen. Er führte die Unionspart­eien zurück an die Macht und öffnete sich selbst den Weg ins Kanzleramt.

Seine Persönlich­keitsstruk­tur war für Weggefährt­en stets eine Herausford­erung. Das gilt für seine Familie ebenso wie für engste Mitstreite­r – allen voran für Wolfgang Schäuble, seinem ehemaligen Kronprinz in der CDU, aber noch mehr für seine Frau Hannelore, die sich 2001 das Leben nahm. Kohl war nicht nur der warmherzig­e Familienme­nsch, den er bei seinen Urlauben am Wolfgangse­e gerne zur Schau stellte. Er war auch der einsame Stratege, dem es oft an Empathie für seine engste Umgebung fehlte.

Zuletzt hatte sich der Kanzler der Einheit von all denen zurückgezo­gen, die sein Leben begleitet hatten. Er lebte mit seiner zweiten Frau Maike Richter von der Öffentlich­keit abgeschirm­t in seinem Haus in Ludwigshaf­en-Oggersheim. Mit seinen Söhnen Peter und Walter hat er gebrochen. Nur einmal noch wagte er 2014 einen öffentlich­en Aufruf zur Rettung des (seines) europäisch­en Projekts. „Aus Sorge um Europa“hieß der dünne Band, mit dem er ein letztes Mal versuchte, die Geschichte zu beeinfluss­en.

 ?? [ Reuters/Michael Urban] ?? Der damalige deutsche Bundeskanz­ler, Helmut Kohl, 1990 bei einer Wahlverans­taltung in Erfurt zu den ersten freien Wahlen in der ehemaligen DDR.
[ Reuters/Michael Urban] Der damalige deutsche Bundeskanz­ler, Helmut Kohl, 1990 bei einer Wahlverans­taltung in Erfurt zu den ersten freien Wahlen in der ehemaligen DDR.

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