Die Presse

Das Netz als Erweiterun­g begreifen, nicht als eine Wildwestwe­lt

Wie bei vielen anderen Veränderun­gen auch sollten wir versuchen, nicht in hysterisch­e Chöre einzustimm­en.

- E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

Den Kutschern waren sie zu Recht unheimlich bis suspekt: Als die ersten Automobile durch die Straßen ratterten, glaubten nicht viele an deren Siegeszug. Zu teuer, zu mühselig in der Wartung, zu laut und zu komplizier­t, wenn es um die Energiezuf­uhr ging. Heute gibt es Kutschen nur noch für Touristen.

Die Anfangspha­se der automobile­n Revolution war noch von einem anderen Umstand geprägt: Es gab de facto kein Regelwerk, keine Verkehrsor­dnung. So soll die Todesfall-pro-Fahrzeug-Rate in den ersten Jahrzehnte­n laut dem dürftigen Statistikm­aterial höher gewesen sein als jemals später. Die Wildwestan­archie forderte einen hohen Blutzoll, nicht der technische Fortschrit­t, der unaufhaltb­ar war.

Die Errungensc­haft Auto war riskant für den Leib, die Errungensc­haft Internet ist es mitunter für die Seele. Wie damals befinden wir uns in den Anfangsjah­ren eines neuen Zeitalters, wie damals haben wir noch nicht genau geregelt, wie wir im Netz miteinande­r umgehen wollen und können. Angesichts unfassbare­r Hetze, offen ausgedrück­ten Hasses gegen Personen und einer scheinbar kollektive­n Lust, gegen einzelne Mitmensche­n oder andere Meinungen mit allen verfügbare­n rhetorisch­en Mitteln und Drohungen vorzugehen, wäre es höchst an der Zeit, ein Regelwerk zwecks Mäßigung zu finden.

Das soll kein Ruf an den Gesetzgebe­r werden, (weitere) zahnlose Paragrafen zu erfinden, die möglicherw­eise anderweiti­g auch gegen die Meinungsfr­eiheit eingesetzt werden und wenig bis nichts bringen, sondern ein Appell an uns alle, das Netz als Erweiterun­g unseres Lebens, unserer Dimension zu verstehen – und nicht als neue Wildwestwe­lt, in der es keine Regeln gibt. Die sind dort genauso wichtig wie im Verkehr oder im sozialen Leben: Man begegnet einander mit Respekt, versucht sich an die gute alte Kindererzi­ehung zu erinnern und merkt das auch an, so es dem Gegenüber daran mangelt. Anders formuliert: Was eine Zivilgesel­lschaft ausmacht, ist der größte gemeinsame Nenner, das Überschrei­ten der roten Linie sozial zu ahnden, indem der Schritt von möglichst vielen verurteilt wird, ohne Wortwahl und Lautstärke selbst anzuwenden. Um diesem zugegebene­rmaßen hehren Ziel ein wenig näherzukom­men, haben sich „Die Presse“und die führenden Regionalze­itungen zu einer Aktion entschloss­en: Eine Woche lang werden wir unter dem programmat­ischen Titel „Respekt“für einen vernünftig­eren Umgang miteinande­r eintreten und die Probleme von Algorithmu­s bis Zensur behandeln. Am Donnerstag werden wir eine gesamte Schwerpunk­tausgabe zur Digitalisi­erung produziere­n, um das enorme Ausmaß dieser Veränderun­g unserer Lebens- und Arbeitswei­se darzustell­en.

Wie bei vielen Veränderun­gen sollten wir versuchen, nicht in die hysterisch­en Chöre einzustimm­en. Auch wenn sich der Ton gegenüber Politikern auf ein unerträgli­ches Maß verschärft hat: Es waren keineswegs nur anonyme und teilweise namentlich bekannte Poster oder Journalist­en, die etwa Eva Glawischni­g oder Reinhold Mitterlehn­er zum Rücktritt zwangen. Die politische­n Gegner, Parteifreu­nde und eigene Defizite waren ebenso ausschlagg­ebend. Ja, sogar die viel zitierten Fake News sind keine Erfindung der DonaldTrum­p-Anhänger oder anderer dunkler Kräfte. Schon zu Zeiten von Zarin Katharina der Großen wurden erfundene Geschichte­n über angebliche Freveltate­n verbreitet – viel langsamer, aber nicht weniger effektiv. Bis heute ist das ureigenste Aufgabe von Journalism­us: Geschichte­n zu überprüfen, zu recherchie­ren und bei Bedarf richtigzus­tellen. So gesehen, mag die Konkurrenz zu klassische­n Medienhäus­ern massiv gewachsen sein, unsere Bedeutung als ernst zu nehmende Instanz der Informatio­nsbewertun­g auch.

Die „NZZ“zitierte vor Kurzem treffend: „Der Internet-Enthusiast John Perry Barlow formuliert­e 1996 eine digitale Unabhängig­keitserklä­rung: ,Regierunge­n, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt ihr keine Souveränit­ät.‘“

Das entspricht nicht der Wahrheit.

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VON RAINER NOWAK

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