Der Brexit: Ein Hürdensprint gegen die Uhr
Analyse. Nur knapp mehr als ein Jahr bleibt ab Montag Zeit, die Briten von der EU zu scheiden und ein neues Verhältnis zu vereinbaren. Für die Europäer geht es vor allem darum, sich nicht erpressbar zu machen.
Brüssel. 362 Tage nach der Abstimmung der Briten über ihren Austritt aus der Europäischen Union beginnen am Montag in Brüssel die Verhandlungen darüber, wie das vonstattengehen soll. Wenn sich die Chefverhandler Michel Barnier und David Davis samt ihren Mitarbeiterstäben um 11 Uhr in einem Konferenzraum im Berlaymont-Gebäude der Kommission zusammensetzen, wird vor allem die europäische Delegation Barniers eine Devise als Handlungsmaxime im Kopf behalten müssen: Nicht gegen die Briten, sondern mit ihnen verhandeln.
Das wird bei manchen Vertretern der europäischen Seite einige innerliche Überwindung erfordern, denn der Zorn über die jahrelange europafeindliche Politik der konservativen britischen Regierungen ist groß. „Wer verbrannte Erde will, kann nicht nachher auf Handelsebene so tun, als wäre man beste Freunde“, drohte ein hoher Entscheidungsträger in einer Brüsseler Institution unlängst angesichts des Wunsches von Premierministerin Theresa May, auf der Stelle ein Freihandelsabkommen zu verhandeln.
So einen nahtlosen Übergang, als wäre nichts geschehen, wird es nicht geben. Vielmehr sind die Brexit-Verhandlungen mit zahlreichen Hindernissen gespickt, begin- nend bei der Frage, über die niemand reden will, aber alle reden müssen: dem Geld.
„Die Union und das Vereinte Königreich sollen beide zur Gänze die finanziellen Verpflichtungen respektieren, die aus der gesamten Periode der Mitgliedschaft des Vereinten Königreichs in der Union entspringen“, heißt es in einem Verhandlungsdokument der Kommission. Eine einheitliche Schlussrechnung (in Euro natürlich) solle es geben, und einen ungefähren Betrag hat die Kommission bereits intern errechnet. Als sie dieses Zahlenwerk den zuständigen Diplomaten der 27 verbleibenden Mitgliedstaaten vorige Woche vorlegte, mussten alle Teil- nehmer die Mobiltelefone an der Saaltür abgeben, und das Dokument wurde nur ganz kurz hergezeigt. Nur ja nichts sollte an die Öffentlichkeit sickern, denn sobald ein bestimmter Betrag in den Zeitungen steht, gehen bei den Briten die roten Lichter an. Wie hoch wird die Rechnung also? „Wesentlich weniger als 100 Milliarden Euro“, sagte ein Teilnehmer dieser Sitzung zur „Presse“.
Völkerrechtlicher Spaghettiteller
Hoch kompliziert wird auch das Aufdröseln der unzähligen völkerrechtlichen Verträge, die die EU gemeinsam mit den Mitgliedstaaten geschlossen hat. Denn in solchen gemischten Abkommen – zum Beispiel dem fertig verhandelten Handelsabkommen mit Singapur – sind die Einzelstaaten neben der EU Vertragspartner. Die Kommission meint zwar, dass die Briten kraft des Brexit automatisch aus diesen Abkommen herausfallen. Völkerrechtlich hält diese Rechtssicht aber nicht. Man müsste also alle Vertragspartner der Union bitten, die Abkommen so zu ändern, dass das Vereinte Königreich nicht mehr Mitglied ist. Eine Formalität? Dem ist nicht so, wie das Beispiel der Luftverkehrsabkommen Österreichs zeigt: Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes von 2002, wonach die Republik als Unionsmitglied diese Abkommen nicht allein ver- handeln könne, forderten mehrere Staaten Nachbesserungen bei Fragen wie den Landerechten für ihre Fluglinien ein. Österreich wurde durch dieses Urteil erpressbar und hat luftfahrtpolitische Nachteile erlitten.
All dies muss rasch abgeschlossen werden, denn das Europaparlament hat über das Verhandlungsergebnis abzustimmen. Damit seine Ausschüsse und das Plenum genug Zeit für Befassung und Debatte haben, muss der (voraussichtlich gut eine Handbreit dicke) Text über die Trennung und die Beziehung von Union und Vereintem Königreich im Herbst 2018 vorliegen – übersetzt in alle 24 Amtssprachen. AUF EINEN BLICK
Am 31. März 2019 wird die EU-Mitgliedschaft des Vereinten Königreichs nach 46 Jahren zu Ende sein. Am 23. Juni vorigen Jahres hatten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt gestimmt. Ab Montag laufen die Verhandlungen über die Bedingungen dieser Scheidung. Zahlreiche Fragen können für Konflikte sorgen: von Zahlungen, die London weiterhin ins EUBudget leisten muss, bis zur Frage, ob die EU alle internationalen Abkommen, bei denen das Vereinte Königreich auch Partei ist, neu verhandeln muss. Bis Herbst 2018 muss es ein Ergebnis geben, damit das Europaparlament diesen Text noch debattieren und beschließen kann.