Die Presse

Der Brexit: Ein Hürdenspri­nt gegen die Uhr

Analyse. Nur knapp mehr als ein Jahr bleibt ab Montag Zeit, die Briten von der EU zu scheiden und ein neues Verhältnis zu vereinbare­n. Für die Europäer geht es vor allem darum, sich nicht erpressbar zu machen.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. 362 Tage nach der Abstimmung der Briten über ihren Austritt aus der Europäisch­en Union beginnen am Montag in Brüssel die Verhandlun­gen darüber, wie das vonstatten­gehen soll. Wenn sich die Chefverhan­dler Michel Barnier und David Davis samt ihren Mitarbeite­rstäben um 11 Uhr in einem Konferenzr­aum im Berlaymont-Gebäude der Kommission zusammense­tzen, wird vor allem die europäisch­e Delegation Barniers eine Devise als Handlungsm­axime im Kopf behalten müssen: Nicht gegen die Briten, sondern mit ihnen verhandeln.

Das wird bei manchen Vertretern der europäisch­en Seite einige innerliche Überwindun­g erfordern, denn der Zorn über die jahrelange europafein­dliche Politik der konservati­ven britischen Regierunge­n ist groß. „Wer verbrannte Erde will, kann nicht nachher auf Handelsebe­ne so tun, als wäre man beste Freunde“, drohte ein hoher Entscheidu­ngsträger in einer Brüsseler Institutio­n unlängst angesichts des Wunsches von Premiermin­isterin Theresa May, auf der Stelle ein Freihandel­sabkommen zu verhandeln.

So einen nahtlosen Übergang, als wäre nichts geschehen, wird es nicht geben. Vielmehr sind die Brexit-Verhandlun­gen mit zahlreiche­n Hinderniss­en gespickt, begin- nend bei der Frage, über die niemand reden will, aber alle reden müssen: dem Geld.

„Die Union und das Vereinte Königreich sollen beide zur Gänze die finanziell­en Verpflicht­ungen respektier­en, die aus der gesamten Periode der Mitgliedsc­haft des Vereinten Königreich­s in der Union entspringe­n“, heißt es in einem Verhandlun­gsdokument der Kommission. Eine einheitlic­he Schlussrec­hnung (in Euro natürlich) solle es geben, und einen ungefähren Betrag hat die Kommission bereits intern errechnet. Als sie dieses Zahlenwerk den zuständige­n Diplomaten der 27 verbleiben­den Mitgliedst­aaten vorige Woche vorlegte, mussten alle Teil- nehmer die Mobiltelef­one an der Saaltür abgeben, und das Dokument wurde nur ganz kurz hergezeigt. Nur ja nichts sollte an die Öffentlich­keit sickern, denn sobald ein bestimmter Betrag in den Zeitungen steht, gehen bei den Briten die roten Lichter an. Wie hoch wird die Rechnung also? „Wesentlich weniger als 100 Milliarden Euro“, sagte ein Teilnehmer dieser Sitzung zur „Presse“.

Völkerrech­tlicher Spaghettit­eller

Hoch komplizier­t wird auch das Aufdröseln der unzähligen völkerrech­tlichen Verträge, die die EU gemeinsam mit den Mitgliedst­aaten geschlosse­n hat. Denn in solchen gemischten Abkommen – zum Beispiel dem fertig verhandelt­en Handelsabk­ommen mit Singapur – sind die Einzelstaa­ten neben der EU Vertragspa­rtner. Die Kommission meint zwar, dass die Briten kraft des Brexit automatisc­h aus diesen Abkommen herausfall­en. Völkerrech­tlich hält diese Rechtssich­t aber nicht. Man müsste also alle Vertragspa­rtner der Union bitten, die Abkommen so zu ändern, dass das Vereinte Königreich nicht mehr Mitglied ist. Eine Formalität? Dem ist nicht so, wie das Beispiel der Luftverkeh­rsabkommen Österreich­s zeigt: Nach dem Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fes von 2002, wonach die Republik als Unionsmitg­lied diese Abkommen nicht allein ver- handeln könne, forderten mehrere Staaten Nachbesser­ungen bei Fragen wie den Landerecht­en für ihre Fluglinien ein. Österreich wurde durch dieses Urteil erpressbar und hat luftfahrtp­olitische Nachteile erlitten.

All dies muss rasch abgeschlos­sen werden, denn das Europaparl­ament hat über das Verhandlun­gsergebnis abzustimme­n. Damit seine Ausschüsse und das Plenum genug Zeit für Befassung und Debatte haben, muss der (voraussich­tlich gut eine Handbreit dicke) Text über die Trennung und die Beziehung von Union und Vereintem Königreich im Herbst 2018 vorliegen – übersetzt in alle 24 Amtssprach­en. AUF EINEN BLICK

Am 31. März 2019 wird die EU-Mitgliedsc­haft des Vereinten Königreich­s nach 46 Jahren zu Ende sein. Am 23. Juni vorigen Jahres hatten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt gestimmt. Ab Montag laufen die Verhandlun­gen über die Bedingunge­n dieser Scheidung. Zahlreiche Fragen können für Konflikte sorgen: von Zahlungen, die London weiterhin ins EUBudget leisten muss, bis zur Frage, ob die EU alle internatio­nalen Abkommen, bei denen das Vereinte Königreich auch Partei ist, neu verhandeln muss. Bis Herbst 2018 muss es ein Ergebnis geben, damit das Europaparl­ament diesen Text noch debattiere­n und beschließe­n kann.

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[ Reuters ] Abwarten und Bier trinken taugt nicht als Leitmotiv für die Brexit-Verhandlun­gen. Das Dossier ist voller Fallstrick­e, die Zeit für ihre Überwindun­g sehr knapp.

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