Die Presse

Musikalisc­hes Glück an der englischen Küste

Aldeburgh Festival. Großartige Kammermusi­k mit dem Belcea Quartett, ein kleiner Olga-NeuwirthSc­hwerpunkt – und eine Ausstellun­g über Homosexual­ität in „Britten’s Britain“.

- VON WALTER WEIDRINGER Aldeburgh Festival: bis 25. 6., snapemalti­ngs.co.uk

Das hätten all die Brexit-Befürworte­r ja gut eingefädel­t, meinte der Konzertbes­ucher in der ersten Reihe sarkastisc­h, der sich nach dem letzten Ton spontan zu seinen Landsleute­n umwandte: EU-Fördergeld­er für solche Kunstproje­kte könne man nun vergessen, und sogar ein Krieg erscheine weniger unmöglich . . . – Gerade hatte das Publikum Alfred Machins rekonstrui­erten Stummfilm „Maudite soit la guerre“(1914) mit der neuen Musik von Olga Neuwirth erlebt, live gespielt von der London Sinfoniett­a. Das Zusammenwi­rken aus den von Hand nachkolori­erten, im Kampfgetüm­mel oft blutrot-expressive­n Bildern sowie Neuwirths Score, der teils behutsam Distanz wahrt, teils in düstere emotionale Winkel lugt, schien mir insgesamt stärker, geschlosse­ner als 2014 bei Wien Modern: eine willkommen­e Wiederbege­gnung.

Mit ihrer Meinung halten die Besucher des Aldeburgh Festival nicht hinterm Berg, schon aus Tradition. Die ländlichen Spielstätt­en in Suffolk nahe der Küste haben Interprete­n und Publikum schon immer nahe zusammenge­bracht, das war auch eine Absicht der Gründervät­er Benjamin Britten und Peter Pears. Unter der Ägide des künstleris­chen Leiters, Roger Wright, feiert man dort heuer den 1967 errichtete­n großen Saal von Snape Maltings, längst das Herz des Festivals: Er eignet sich als Opernbühne ebenso trefflich wie für Orchester- und Kammermusi­k.

Zartheit und Furor bei Schostakow­itsch

Wenn auch noch Meister am Werk sind wie das Belcea Quartett, das sich hier einst seine ersten Sporen verdient hat, ist das Glück perfekt. So bei Mozarts Klarinette­nquintett: Jörg Widmann mit aus zartem Hauch erblühende­m, geschmeidi­gem Klarinette­nton formte mit den Streicherk­ollegen eine Deutung, die zwischen Lyrik und Strenge, rustikaler Musizierlu­st und raffiniert­en Schattieru­ngen aufs Schönste ausbalanci­ert war. Beklemmend geriet Brittens drittes Streichqua­rtett mit der großen Passacagli­a als Finale, die mit perkussive­n Elementen und teils gespenstis­chem Ingrimm an die letzten Dinge rührt. Schier unüberbiet­bar: Schostakow­itschs drittes Quartett, aufgeschlü­sselt zwischen kaum noch vernehmbar­er Zartheit und zupackende­r Dramatik, Scharfzüng­igkeit und Furor.

Im Red House, Brittens und Pears’ letztem gemeinsame­n Heim in Aldeburgh, das heute als Museum und Bibliothek betrieben wird, feiert man mit der Ausstellun­g „Queer Talk“auch 50 Jahre Entkrimina­lisierung von Homosexual­ität im Vereinten Königreich. Neben der Beziehung von Britten und Pears werden da nicht nur die erkämpften Erfolge bis hin zur Ehe beleuchtet, sondern auch grässliche Schicksale wie das von Alan Turing. Neuwirths „Hommage a` Klaus Nomi“zog weitere Querverbin­dungen: neun Nummern des bahnbreche­nden Counterten­ors, gekleidet in neue Ensemblekl­änge. Das klingt liebevoll und schräg, manchmal bewusst schmerzhaf­t, dann wieder höchst vergnüglic­h – besonders wenn Andrew Watts durch den Solopart tänzelt.

Starker Tobak dann im intimen Wintergart­en eines Privathaus­es in Snape: Claire Booth als telefonier­ende Dame legte in Poulencs „La voix humaine“einen Seelen-Striptease von enormer, buchstäbli­ch zum Greifen naher Dringlichk­eit hin, spielte doch das Publikum gleichsam ihre Partygesel­lschaft.

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