Musikalisches Glück an der englischen Küste
Aldeburgh Festival. Großartige Kammermusik mit dem Belcea Quartett, ein kleiner Olga-NeuwirthSchwerpunkt – und eine Ausstellung über Homosexualität in „Britten’s Britain“.
Das hätten all die Brexit-Befürworter ja gut eingefädelt, meinte der Konzertbesucher in der ersten Reihe sarkastisch, der sich nach dem letzten Ton spontan zu seinen Landsleuten umwandte: EU-Fördergelder für solche Kunstprojekte könne man nun vergessen, und sogar ein Krieg erscheine weniger unmöglich . . . – Gerade hatte das Publikum Alfred Machins rekonstruierten Stummfilm „Maudite soit la guerre“(1914) mit der neuen Musik von Olga Neuwirth erlebt, live gespielt von der London Sinfonietta. Das Zusammenwirken aus den von Hand nachkolorierten, im Kampfgetümmel oft blutrot-expressiven Bildern sowie Neuwirths Score, der teils behutsam Distanz wahrt, teils in düstere emotionale Winkel lugt, schien mir insgesamt stärker, geschlossener als 2014 bei Wien Modern: eine willkommene Wiederbegegnung.
Mit ihrer Meinung halten die Besucher des Aldeburgh Festival nicht hinterm Berg, schon aus Tradition. Die ländlichen Spielstätten in Suffolk nahe der Küste haben Interpreten und Publikum schon immer nahe zusammengebracht, das war auch eine Absicht der Gründerväter Benjamin Britten und Peter Pears. Unter der Ägide des künstlerischen Leiters, Roger Wright, feiert man dort heuer den 1967 errichteten großen Saal von Snape Maltings, längst das Herz des Festivals: Er eignet sich als Opernbühne ebenso trefflich wie für Orchester- und Kammermusik.
Zartheit und Furor bei Schostakowitsch
Wenn auch noch Meister am Werk sind wie das Belcea Quartett, das sich hier einst seine ersten Sporen verdient hat, ist das Glück perfekt. So bei Mozarts Klarinettenquintett: Jörg Widmann mit aus zartem Hauch erblühendem, geschmeidigem Klarinettenton formte mit den Streicherkollegen eine Deutung, die zwischen Lyrik und Strenge, rustikaler Musizierlust und raffinierten Schattierungen aufs Schönste ausbalanciert war. Beklemmend geriet Brittens drittes Streichquartett mit der großen Passacaglia als Finale, die mit perkussiven Elementen und teils gespenstischem Ingrimm an die letzten Dinge rührt. Schier unüberbietbar: Schostakowitschs drittes Quartett, aufgeschlüsselt zwischen kaum noch vernehmbarer Zartheit und zupackender Dramatik, Scharfzüngigkeit und Furor.
Im Red House, Brittens und Pears’ letztem gemeinsamen Heim in Aldeburgh, das heute als Museum und Bibliothek betrieben wird, feiert man mit der Ausstellung „Queer Talk“auch 50 Jahre Entkriminalisierung von Homosexualität im Vereinten Königreich. Neben der Beziehung von Britten und Pears werden da nicht nur die erkämpften Erfolge bis hin zur Ehe beleuchtet, sondern auch grässliche Schicksale wie das von Alan Turing. Neuwirths „Hommage a` Klaus Nomi“zog weitere Querverbindungen: neun Nummern des bahnbrechenden Countertenors, gekleidet in neue Ensembleklänge. Das klingt liebevoll und schräg, manchmal bewusst schmerzhaft, dann wieder höchst vergnüglich – besonders wenn Andrew Watts durch den Solopart tänzelt.
Starker Tobak dann im intimen Wintergarten eines Privathauses in Snape: Claire Booth als telefonierende Dame legte in Poulencs „La voix humaine“einen Seelen-Striptease von enormer, buchstäblich zum Greifen naher Dringlichkeit hin, spielte doch das Publikum gleichsam ihre Partygesellschaft.